Das Österreichische Komitee für Soziale Arbeit tagte heuer in der Wiener Hofburg. Österreichische und internationale TeilnehmerInnen tauschten sich über die Behindertenrechtskonvention aus. Diesen ausführlichen Bericht verfassten Anna Hosenseidel und Isabell Supanic.
Michael Chalupka, Präsident des österreichischen Komitees für Soziale Arbeit eröffnete die Jahrestagung, die heuer in Wien stattfand. Im Dachgeschoss jenes Teils der Hofburg, indem sich die Redoutensäle befinden, fand die Veranstaltung auf zwei Ebenen statt. Irene Köhler, Geschäftsführerin des ÖKSA ging auf die schwierige Suche nach geeigneten Räumlichkeiten ein. Sie ist sich dessen sehr wohl bewusst, dass sich RollstuhlfahrerInnen nur auf der obersten Ebene bewegen können. Sie und ihr Team haben trotzdem versucht den Ansprüchen aller TeilnehmerInnen der Tagung gerecht zu werden.
BM Rudolf Hundstorfer eröffnete seine Ansprache mit einem Rückblick auf sein abenteuerliches Erlebnis der Rettung von Lipizzanern. 1992 als diese noch in der Hofburg untergebracht waren und ein Brand ausbrach. Anschließend widmete er sich wieder aktuellen Themen: Nationaler Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (NAP), Arbeitsmarktpolitik 2012, Kompetenzverlagerung in den Bund, Pflegegeldeinstufung „neu“, Persönliche Assistenz „für zu Hause (?)“.
Erste Entwürfe des NAP sollen noch im Dezember veröffentlicht werden. Anfang 2012 (Jänner/Februar) soll die nächste Arbeitsgruppe mit VertreterInnen der Organisationen stattfinden. 2012 sollen 160 Mill. Euro für arbeitsmarkpolitische Aktionen investiert werden – es wird in jenem Bereich „kein Sparen“ geben, so Minister Hundstorfer. Künftig sollen noch mehr Kompetenzen beim Bund angesiedelt sein. Sollte es im Zuge der Neuorganisation der Pflegegeldbeantragungen bzw. –auszahlungen zu Problemen kommen bittet der Minister um einen Anruf im Ministerium. Voreilige Presseaussendungen mag er keine bekommen – lieber anrufen um etwaige „Stolperer ausbügeln zu können.“ Hundstorfer betont die seiner Meinung nach gelungene Reform der Pflegegeldeinstufung und spricht sich vor allem für den ab Stufe vier zum tragen kommenden pflegeorientierten Bezug hinsichtlich der Einstufung aus. Die Persönliche Assistenz am Arbeitsplatz (PAA) sei im Gegensatz zur Persönlichen Assistenz „für Zuhause“ wie Hundstorfer diese bezeichnet, in ihrer Organisation bereits geregelt. Hier muss eine länderübergreifende Regelung noch erarbeitet werden.
Stadträtin Sonja Whesely war verhindert und schickte als Stellvertretung Herrn Wagner. Dieser überbrachte „Beste Grüße“ und betonte, dass die Sozial- und Gesundheitsbudgets den „sozialen Anforderungen Rechnung tragen“ müssen. Demnach wird es 2012 im Wiener Budget ein Plus von 2,6 % für Gesundheits- und Sozialagenden geben. Der Bereich „für Menschen mit besonderen Bedürfnissen, wie wir diesen Bereich nennen“, so Wagner, dürfe nicht vernachlässigt werden. Mit einem Zitat von Erich Kästner verabschiedete sich Wagner und forderte die TeilnehmerInnen auf, dem Zitat weiterhin gerecht zu werden: „Es gibt auf der Welt nichts Gutes, außer man tut es.“
Michael Löher, Vorstand des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V. bezeichnete in seiner Begrüßungsrede die gemeinsame, länderübergreifende Zusammenarbeit und das „über den Tellerrand schauen“ für sehr wichtig und bedankte sich in diesem Sinne für die Einladung.
Thorsten Afflerbach von der Abteilung Integration von Menschen mit Behinderung im Europarat gab in seinem Vortrag zunächst einen Einblick über Instrumente und Aktivitäten des Europarats. Ziele des Europarats sind der Schutz der Menschenrechte, Schutz der Demokratie, Schutz der Rechtsstaatlichkeit sowie Förderung des sozialen Zusammenhalts. Die Instrumente des Europarats setzen sich zusammen aus Konventionen, Empfehlungen, (Länder-) Berichte und (vergleichende) Analysen. Herr Afflerbach berichtete, dass sich der Behindertenaktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention an alle Regierungen, die die Konvention ratifiziert haben richtet und aus 15 zentralen Aktionslinien, 41 Zielen und 163 konkreten Maßnahmen der Mitgliedstaaten besteht. Die Umsetzung des Plans soll in Zusammenarbeit zwischen Regierungen und Nichtregierungsorganisationen erfolgen. Mehr dazu erfahren Sie unter www.coe.int.
Antje Welke vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. berichtete über die ergebnisse des 3-Länder-ExpertInnentreffens des International Council on Social welfare (ICSW) in Wien. Es ging um einen Ländervergleich Österreich-Deutschland-Schweiz zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK). Insgesamt nahmen 27 ExpertInnen teil. In ihrer Einführung über die UN-BRK wies Frau Welke auf die falsche Übersetzung mancher Wörter/Begriffe von der englischen in die deutsche Fassung der UN-BRK hin. Z.B. wurde inclusion fälschlicherweise mit Integration und participation mit Teilhabe übersetzt. Bisher gibt es 106 Ratifikationen weltweit. Aktuell liegen dem UN-Ausschuss in Genf 60 Individualbeschwerden vor. Im Gegensatz zur Schweiz, die zuerst prüft und dann „hoffentlich ratifiziert“, haben Deutschland und Österreich zuerst unterschrieben und ratifiziert und anschließend „geprüft“ bzw. diskutiert. Immerhin wird in der Schweiz zum 1.1.2012 die Persönliche Assistenz eingeführt. Mehr Informationen unter: www.deutscher-verein.de.
Max Rubisch vom BM für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz wurde von Michael Chalupka als „personifizierter focal point“ in Sachen UN-BRK vorgestellt. Rubisch ergänzte, dass das Sozalministerium koordinierend und federführend tätig sei. In den Ländern seien dies die Sozialabteilungen in den Landesregierungen. Er lobt die Arbeit des Monitoringausschusse (MA) der bisher über 30 Sitzungen abhielt – 5 davon als öffentliche Sitzungen. Bezüglich des NAP teilt Rubisch mit, dass nach der ersten Arbeitstagung im Februar, ein Arbeitspapier an alle Ministerien verschickt wurde. Aus jedem Ministerium seinen Vorschläge und Anregungen zurückgekommen. Im Jänner 2012 wir es die nächste Arbeitsgruppe geben.
Die NAP Schwerpunkte sind: Allgemeine Behindertenpolitik, Diskriminierungsschutz, Barrierefreiheit, Bildung, Beschäftigung, Selbstbestimmt Leben, Gesundheit und Rehabilitation, Bewusstseinsbildung und Information. Ein Überblick über laufende Aktivitäten:
- Entwicklungszusammenarbeit: Arbeitsgruppe (AG) im Außenministerium
- Behindertengleichstellungsrecht: Evaluierung und Weiterentwicklung (BMASK)
- Sachwalterschaftsrecht: Reformprozess (BMJ)
- Schutz vor Gewalt und Missbrauch: Arbeitsgruppe im BMWFJ
- Barrierefreiheit: Bundesgebäude, Auftragsvergabe, Kultur, Sport, Tourismus, Medien
- Inklusive Bildung: breiter Diskussionsprozess (BMUKK)
- Beschäftigung: Gesetzesänderungen und neue Programme (BMASK, BSB, AMS, SV)
- Persönliche Assistenz: Arbeitsgruppe mit Ländern (BMASK)
- Pflegevorsorge: Reform des Pflegegelds, Pflegefonds, AG Strukturreform
- Bewusstseinsbildung: Kampagnen, Schulungen
Nach der Kaffeepause berichtete Marianne Schulze, eine glühende Verfechterin für die Einhaltung der UN Rechte für behinderte Menschen und Vorsitzende des Monitoringausschusses (MA), über die Arbeit des MA.
Ihr Referat gliederte sich in drei Teile:
- Was bedeutet Monitoring?
- Strukturelle Probleme: -Föderalismus, -Querschnittsmaterie, -Menschenrechtsansatz
- Institutionelle Probleme: -Amtsverständnis, -Ressourcen
Sie hat darauf hingewiesen, dass es zwei Ebenen gibt, die zur Umsetzung der UN-Konvention wichtig sind. Die erste Ebene ist die strukturelle/politische Ebene. Die zweite Ebene beinhaltet Beschwerden und Umsetzung. Frau Schulze hat auch darauf hingewiesen, dass nach 3,5 Jahren des Bestehens des MA sehr viel gearbeitet wurde, aber wenig bewirkt werden konnte. Schwierig ist die Umsetzung der UN-Konvention wegen dem Föderalismus. Dadurch sind die Gespräche auf den verschiedenen Ebenen sehr problematisch. Sie stellte die Frage:“Wie kann man trotz aller Schwierigkeiten die Konvention umsetzen? Wo sind die Lösungsansätze?“ Eine Forderung ist eine Enquette für alle Beteiligten fernab von Budget und Beamtentum.
Das Soziale Modell von Behinderung bedingt tiefgreifende Änderungen innerhalb der „Behindertenhilfe“. Wir brauchen innovative Denkanstöße um das soziale Modell mit der UN-Konvention kompatibel machen zu können (Artikel 8). Durch unsere NS-Vergangenheit wird das soziale Modell „behindert“, weil wir die traurigen und dramatischen Kapitel der Vernichtungsstrategie der NS-Zeit nicht verarbeitet haben. Daher kann das soziale Modell sehr schwer umgesetzt werden.
Strukturelle Veränderungen gehen nicht tief genug. Die Umsetzung der Menschenrechte der UN-Konvention muss auf allen Ebenen gegeben sein. Der Monitoringausschuss soll mit Aufgaben der gesetzlichen Einhaltung des völkerrechtlichen Vertrages im Sinne der UN-Konvention beauftragt werden. Das heißt Geschäftsführer der Serviceeinrichtungen und Institutionen müssen die UN Konvention in ihre Umsetzung mit einschließen.
Der Kritikbegriff in der Politik ist ein anderer. Marianne Schulze bringt es auf den Punkt: „Wenn’s keine Beschwerden gibt, dann passt es schon“. Behinderte Menschen müssen sich beschweren um gehört zu werden. Das ist die allgemeine Haltung der politischen und institutionellen Beteiligten. Diese Einstellung ist aus menschenrechtlicher Sicht verachtend. Denn viele behinderte Menschen haben schlichtweg nicht die Kraft und notwendige Unterstützung um sich beschweren zu können.
Ein sehr großes Problem ist die finanzielle Ausstattung des Monitoringausschusses. Die Mitglieder arbeiten alle ehrenamtlich. Nur Frau Marianne Schulze bekommt seit kurzem eine kleine Aufwandsentschädigung. Man muss sich schon fragen welchen Stellenwert dieses Gremium in Österreich dadurch hat.
Forderungen von Marianne Schulze: breite, tiefe Diskussion; Progressivere Bewusstseinsbildung, Partizipation fördern, Gesetzesvorhaben bis 2013 in Angriff nehmen.
Am Schluss wies Frau Schulze nochmals darauf hin, dass behinderte Menschen in der Gesetzgebung teilhaben müssen.
Maria Rosina Grundner vom ÖAR hielt anschließend ein Referat über positive Beispiele der Umsetzung von Barrierefreiheit wie Blindenleitsysteme, Spracherkennungssysteme für Gehörlose, etc.
Danach sprach Günther Schuster vom Bundessozialamt über die Nahtstelle von Schule und Arbeit. Herr Schuster sagte, dass es nicht nur um behinderte SchülerInnen geht, sondern auch um benachteiligte SchülerInnen. Durch die beruflichen Eingliederung dieser benachteiligten SchülerInnen sind diese im Versicherungssystem und brauchen dadurch keine Behindertenhilfe.
Der Artikel 27 der UN-Konvention weist auf die Umsetzung im Mainstream und die Inklusion in die Regelsysteme hin. Dadurch gibt es positive Anreize. Das Programm „Fit to work“ ist ein innovatives Programm zur Erhaltung der Beschäftigungsfähigkeit für benachteiligte Jugendliche.
Seit zehn Jahren ist die Clearing zum Jugendcoaching ein positives Beispiel für die Unterstützung der sozialen Umfelds. Durch diese Clearing im sozialen Umfeld konnten schon 7.500 Jugendliche Beschäftigung finden. Ein positives Aspekt ist, dass dieses Clearing schon in den Pflichtschulen ansetzt. Mittlerweile hat es eine große Akzeptanz. Die Lehrpersonen sehen es mittlerweile als Unterstützung für die Schüler und als Steuerung und Orientierungshilfe. Nach dem Clearing beginnt der Übergang des Jugendcoaching, das bis zu einem Schuljahr erweitert werden kann. Durch den Jugendcoach gibt es klare Vorstellungen und Verbindlichkeiten. Durch den Jugendcoach werden die Ressourcen der benachteiligten Jugendlichen besser koordiniert und ausgehend von dieser Arbeit gibt es mehr Chancen die benachteiligten Menschen in die Arbeitswelt einzugliedern. Es gibt einen bundesweiten Auftrag der Umsetzung dieses Jugendclearing auch auf Länderebene. Die Länder Wien und Steiermark wollen das bis 2012 umsetzen.
Nach dem Mittagsbuffet, das von Jugend am Werk organisiert wurde, gab es eine Podiumsdiskussion zur Frage „Wo sind die größten Herausforderungen in der Umsetzung der UN-BRK?“. Aus Platzgründen möchten wir ausschließlich die Meinung und Vorschläge der Selbstvertreterinnen wieder geben, weil sie damit schlicht und einfach ins Schwarze treffen:
Heide Tomacek und Sabine Franz vom Forum Selbstvertretung für Menschen mit Lernschwierigkeiten und Behinderungen innerhalb der ÖAR meinten, dass es die UN-BRK zwar schon seit 2008 gäbe. Sie haben aber das Gefühl, „dass sie bei uns noch nicht angekommen sei.“ Für sie ist die UN-BRK sehr wichtig, weil „da drin steht, dass alle Menschen mit und ohne Behinderung die gleichen Rechte haben.“ Sie fordern „eine Schule für Alle“ denn „Bildung muss bei niemandem zu kurz kommen“. Es muss „ein Recht auf Arbeit“ geben. Wenn es am ersten Arbeitsmarkt zu Problemen kommt, muss es möglich sein „in die Tagesstruktur zurück zu kehren“. Es muss eine Lösung geben bezüglich der finanziellen Leistungen: was wenn die Familenbeihilfe wegfällt? Gibt es eine Möglichkeit diese wieder zu bekommen? Beide betonen das Recht „so zu leben, wie wir wollen. Dafür brauchen wir Persönliche Assistenz.“ Weiters darf es keine Barrieren mehr geben – auch keine sprachlichen Barrieren. Frau Franz schließt ihren Wortbeitrag mit folgender Aussage: „Behindert ist wer behindert wird.“
Abschließend gaben Barbara Braun, Referentin im deutschen Bundesministerium für Arbeit und Soziales und Daniel Hadorn vom Schweizer Gleichstellungsrat ein Feedback zur österreichischen Diskussion aus ihrer jeweiligen Perspektive.
Braun gab an, dass der NAP in Deutschland um einige Themenfelder „reicher“ sei als in Österreich. Dennoch haben wir „gemeinsame Aufgaben und dasselbe Ziel.“ Aufgefallen sei ihr, dass Inklusion hierzulande an „die Grenzen des föderalen Systems“ stößt. Schließlich sei eine breite Diskussion zu führen – es geht um „eine Veränderung für alle Menschen“.
Hadorn sprach von der Schweiz als schwarzes Schaf bezüglich der Unterzeichnung/Umsetzung der UN-BRK. Wenn in der Schweiz jemand behindert ist, „ist er ein Fall für die Sozialversicherung.“ Leider würde in einigen Politikerköpfen der Denkansatz spuken, dass Menschen mit einer (schweren) Mehrfachbehinderung keine Schulbildung brauchen – sie könnten dem Staat nie mehr das zurück geben, was er in sie investrieren würde. Beeindruckt zeigte sich Hadorn von der Praxis der Schlichtungsverfahren hierzulande. In der Schweiz seien Prozessverfahren von Kanton zu Kanton unterschiedlich geregelt und langwierig. Der Föderalsimus als solches ist auch in der Schweiz ein Problem. Auf jeden Fall braucht es „auch in der Schweiz einen Paradigmenwechsel“. Hadorn zeigt sich begeistert von der regen Diskussion in Österreich und möchte sich nicht zuletzt von der Veranstaltung des ÖKSA ein wenig Zuversicht mit in die Schweiz nehmen.
AutorIn: Anna Hosenseidl und Isabell Supanic
Zuletzt aktualisiert am: 16.06.2017
Artikel-Kategorie(n): News, Soziale Arbeit und Begleitung
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