„Was arbeite ich eigentlich?“ – das fragt sich in diesem Artikel eine Person aus dem Behindertenbereich, die anonym bleiben möchte. Ein Kommentar zum Thema Pflege in der Behindertenarbeit.
Ein Tag in einer WG für Erwachsene mit Schwerst- und Mehrfachbehinderung:
In der Früh BewohnerInnen aufwecken, diese waschen und anziehen, anschießend Transfer in den Rollstuhl. Danach Frühstück, welches entweder klein geschnitten oder püriert werden muss, damit dann unsere BewohnerInnen entsprechend bei der Essenseinnahme unterstützt werden können. In der PFLEGE hat man dies früher als „füttern“ bezeichnet.
Danach bei Bedarf Hände und Gesicht der BewohnerInnen waschen, denn in der PFLEGE möchte man ressourcenorientiert arbeiten und mit der Möglichkeit von Handführung die Esssituation ein Stück weit selbstbestimmter gestalten. Das geht zumeist nicht ganz ohne „herumpatzen“.
Je nach Witterung, werden unsere BewohnerInnen dann erneut angezogen, da die Fahrtendienste kommen und unsere BewohnerInnen in ihre Tagesstrukturen bringen, wo vermutlich dann auch keine PFLEGE passiert.
Wenn unsere BewohnerInnen wieder in die WG kommen, erfolgt zumeist erstmals Unterstützung beim WC-Gang bzw. kümmern wir uns um die Inkontinenzversorgung. In der PFLEGE nannte man das früher „wickeln“. Wer möchte bekommt eine Kaffeejause, adäquat hergerichtet für die erforderliche Unterstützung durch uns, Getränke werden zum Teil eingedickt, da manche unserer BewohnerInnen Schluckstörungen haben. Ein Faktor, den man zum Beispiel aus der PFLEGE kennt.
Auf Grund des fragwürdigen Personalschlüssels und dem ohnehin vorherrschenden Personalmangels, bleibt wenig Zeit für die PÄDAGOGIK. Weil es gilt ja auch den Haushalt zu meistern (Wäsche, Kochen, Abwasch) und die notwendige medizinische Versorgung (Arztbesuche, Apothekenbestellungen, …) zu gewährleisten. Den letzten Punkt kennt man vielleicht aus der PFLEGE.
Ein Tag für die BetreuerInnen ist oft schnell herum, weil mannigfaltige Aufgaben zu erledigen sind. Für unser BewohnerInnen hingegen zieht sich die Zeit bis zum Abendessen vermutlich schon in die Länge. Dann geht es in umgekehrter Reihenfolge wie auch schon in der Früh los: Unterstützung beim Essen, baden oder duschen, Zähne putzen, evt. rasieren, Pyjama anziehen, Transfer ins Bett, angenehme Positionierung finden (in der PFLEGE nannte man das früher „lagern“), denn unsere BewohnerInnen können sich zum Teil nicht selbstständig drehen und wenden, wie es ihnen angenehm wäre.
Scheinbar sind dies aber Tätigkeiten, die in der PFLGE nicht gemacht werden. Denn das ist die Argumentation, dass Viele von uns BetreuerInnen keinen Pflegebonus, Entlastungswoche,…? bekommen.
Also habe ich am Ende meines Arbeitstages kaum PÄDAGOGISCH gearbeitet, weil die Zeitressourcen fehlen, aber offenbar auch keine PFLGE gemacht. Da stellt sich natürlich die Frage, was arbeite ich eigentlich?
Und trotzdem hatte ich nach vier Jahren Arbeit in der WG ein Burnout. Und es stellt sich mir bereits die nächste Frage: Was würde eigentlich mit mir passieren, wenn ich meine Arbeit Vollzeit mache, so wie es sich unserer Politik wünscht?
Andererseits arbeite ich ja offenbar NICHTS, das dazu NUR Teilzeit und in Folge kann ich dann ja auch nur eine staatsfeindliche und das Sozialsystem ausnützende Person sein.
Da fällt mir auf, dass ich meinen Text in der Gegenwart verfasst habe. Das ist nicht korrekt, da ich nicht mehr in der WG arbeite. Nachdem ich ja offenbar in den Augen der Politik NICHTS gearbeitet habe, engagiere ich mich beruflich nun in einem anderen Bereich. Interessanterweise ist dieser weniger verantwortungsvoll, weniger belastend, die Arbeitszeiten sind geregelt (kein kurzfristiges einspringen auf Grund betrieblicher Notwendigkeit!) und ich werde besser bezahlt. Liegt wahrscheinlich daran, dass es sich nicht um den Sozialbereich handelt.
Anmerkung:
Ich unterscheide ungern zwischen mentaler Behinderung und körperlicher schwerst und Mehrfachbehinderung, da die einen Betroffenen geduldige, zeitintensive Anleitung und die anderen tatkräftige Unterstützung bzw. Komplettübernahme der PFLEGE brauchen. Man spielt nicht die eine Form der Behinderung gegen die andere aus.
Die Redaktion bestätigt die Authentizität dieses Beitrags.
AutorIn: Redaktion
Zuletzt aktualisiert am: 01.05.2023
Artikel-Kategorie(n): Arbeitsbedingungen, News
Permalink: [Kurzlink]