Vor wenigen Wochen meldete VertretungsNetz ein Rekordniveau an Freiheitsbeschränkungen. Besonders auffällig: Der starke Anstieg von medikamentösen Beschränkungen. Behindertenarbeit.at wollte Genaueres wissen und hat bei Mag.a Susanne Jaquemar, Fachbereichsleiterin der Bewohnervertretung, nachgefragt.
„Noch nie seit Inkrafttreten des Heimaufenthaltsgesetzes 2005 wurden uns so viele Freiheitsbeschränkungen gemeldet wie 2023. Sowohl die Zahl der Betroffenen als auch die Zahl der Freiheitsbeschränkungen sind allein seit 2019 – dem Jahr vor der Pandemie – um über 30 Prozent angestiegen“, sagt Susanne Jaquemar. Sie leitet seit fast 20 Jahren die Bewohnervertretung bei VertretungsNetz, welche im Auftrag des Justizministeriums die Umsetzung des HeimAufG (Heimaufenthaltsgesetz) in Betreuungseinrichtungen überprüft.
Alarmierend ist der erneut starke Anstieg von Freiheitsbeschränkungen in Alten- und Pflegeeinrichtungen. Vergleichen mit 2019 beträgt der Zuwachs 60 Prozent. Der größte Anteil der Freiheitsbeschränkungen – ganze 70 Prozent – erfolgt dabei durch die Verabreichung sedierender Medikamente.
Gabe von Medikamenten „oft ohne Zustimmung“
Auf die Frage, wann eine Medikamentengabe als Freiheitsbeschränkung gemeldet werden muss, verweist Jaquemar auf das HeimAufG: „Eine Freiheitsbeschränkung liegt dann vor, wenn eine Ortsveränderung einer Patientin durch ‘medikamentöse Maßnahmen’ unterbunden wird”. Entscheidend ist, dass das Medikament eine Ruhigstellung (mit)bezwecken soll. Handelt es sich nur um eine dämpfende Nebenwirkung, liegt keine Freiheitsbeschränkung vor.
Wichtig zu wissen: „Jedes Medikament braucht eine medizinische Indikation und Einwilligung. Das heißt, ich kann das Medikament nur dann geben, wenn der:die Patient:in zustimmt“, klärt uns Susanne Jaquemar über rechtlichen Vorgaben auf. In der Praxis wird dies anscheinend nicht immer so genau genommen: „Wir wissen aus Erfahrung, dass die Zustimmung oft fehlt“, lässt Jaquemar wissen. Es soll sogar vorkommen, dass sich Bewohner:innen weigern, ein Medikament einzunehmen und dieses dann beispielsweise ins Joghurt gemischt wird.
Personalmangel und Medikamente als Auslöser einer Negativspirale
Bei regelmäßigen Überprüfungsbesuchen offenbart sich zunehmend das Bild einer Negativspirale: Weil Personal fehlt, erhalten Bewohner:innen weniger Aktivierung und Zuwendung. Hinzu kommen Bettruhezeiten teilweise schon am späten Nachmittag. Viele Bewohner:innen reagieren darauf mit Unruhe und Bewegungsdrang – ein Zustand, der allzu oft mit sedierenden Medikamenten “behandelt” wird.
Immer wieder erlebt die Bewohnervertretung, dass Personen aufgrund der hohen Medikation sturzgefährdet sind. In weiterer Folge wird diese aus Sicherheitsgründen zusätzlich im Rollstuhl fixiert oder im Bett beschränkt. So verschlechtert sich ihr Allgemeinzustand noch schneller, noch mehr Muskeln werden abgebaut. Es sind Fälle bekannt, bei denen eine zunächst körperlich fitte Person, die ins Pflegeheim kam und aufgrund der hohen Medikamentengabe „innerhalb von wenigen Wochen nicht mehr gehen kann“.
„Es geht um das Phänomen Unruhe und wie man damit umgeht.“
Im Grunde geht es um die Frage: „Was ist Unruhe und wie gehe ich damit um“, weist Jaquemar auf die Haltung des Personals hin. Wenn bei Unruhe sofort der Gedanke aufkommt, die Person braucht ein Medikament, sind Freiheitsbeschränkungen schnell an der Tagesordnung. Umgekehrt zeigt sich auch in vielen Situationen: „Wenn sich die Pflegekraft Zeit nimmt für eine Person, ist die Unruhe weg, das Medikament nicht mehr nötig“, erzählt Jaquemar von Erfahrungen aus der Praxis.
Unruhe kann sehr vielfältige Gründe haben. Auch Strukturen und Vorgaben innerhalb der Einrichtung, wie fixe Essenszeiten oder Bettruhe, können das Wohlbefinden der Bewohner:innen stark beeinflussen. „Personen kommen aus unterschiedlichsten Lebenssituationen plötzlich in ein Heim. Keiner weiß, was die Person früher für einen Tagesrhythmus hatte, vor allem wenn die Person ihre Bedürfnisse nicht mehr artikulieren kann.“
Studie bestätigt Einfluss von Haltung auf Freiheitsbeschränkungen
Dass die Haltung des Personals sowie Wissen über beschränkende Maßnahmen eine wichtige Rolle spielen, bestätigt auch die Studie FRALTERNA der Universität Innsbruck. Die Studie untersuchte, aus welchen Gründen Freiheitsbeschränkungen in unterschiedlichen Heimtypen zum Einsatz kommen. Dabei wurde festgestellt: Wenn in Einrichtungen eine Haltung vertreten wird, die auf die Vorteile von beruhigender Medikation fokussiert, kommt es signifikant häufiger zu Freiheitsbeschränkungen.
Die Studie bestätigt auch die Bedeutung des HeimAufG, das seit Inkrafttreten im Jahr 2005 viel zur Sensibilisierung für freiheitsbeschränkende Maßnahmen und insbesondere für den vorrangigen Einsatz von Alternativen beigetragen hat.
Langsam steigt Bewusstsein für medikamentöse Beschränkungen
„Medial groß thematisiert wurden medikamentöse Freiheitsbeschränkungen erstmals vor etwa 10 Jahren“, spricht Jaquemar über den langen Anlauf des HeimAufG. Bis heute führt das Thema immer wieder zu Diskussionen. Gerade medizinisches Personal zeigt häufig Unverständnis und kontert mit „Ich behandle ja nur“. „Aber Medikamente können auch eine Freiheitsbeschränkung sein, betont Jaquemar. Und eine Freiheitsbeschränkung darf nur „das letzte Mittel der Wahl sein, ich muss vorher alles andere ausprobiert haben.“
Insgesamt lässt sich ein wachsendes Bewusstsein erkennen: „Es wird inzwischen deutlich mehr gemeldet. Wir gehen davon aus, dass die Dunkelziffer kleiner geworden ist.“ Insbesondere in Einrichtungen für Kinder und Jugendliche „fängt es jetzt erst wirklich an, dass das Gesetz umgesetzt wird“. Inwiefern dies zu den hohen Zahlen bei Freiheitsbeschränkungen beiträgt, muss noch analysiert werden.
Ländervorgaben „gehen an den Bedürfnissen der Bewohner:innen vorbei“
Abschließend erwähnt Susanne Jaquemar noch einen wichtigen Punkt: Die Länder geben vor, wofür Gelder in Pflege- und Betreuungseinrichtungen eingesetzt werden. Hier fließe allzu oft Geld in technische Innovationen statt in gute Ausstattung, merkt Jaquemar kritisch an. „Wenn die Vorgaben an den Bedürfnissen der Bewohner:innen vorbeigehen, können auch die Träger nicht viel machen.“ Laut Jaquemar gäbe es bereits „gute Konzepte“, welche die Situation in Pflege- und Betreuungseinrichtungen verbessern könnten – zur Umsetzung fehle jedoch der politische Wille.
„Es ist ein Thema, mit dem wir uns alle auseinandersetzen müssen. Es liegt an uns allen, da etwas zu verändern“, so Susanne Jaquemar über ein gesellschaftliches Umdenken, das angesichts der Pflegekrise immer wichtiger wird.
Quellen:
VertretungsNetz via OTS | 16.06.2024
Freiheitsbeschränkungen in Wohn- und Pflegeeinrichtungen auf Rekordniveau
https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20240516_OTS0017
Jahresbericht VertretungsNetz 2023
https://vertretungsnetz.at/fileadmin/user_upload/2_SERVICE_Berichte/Jahresbericht_2023.fin.pdf
Leitfaden „Freiheitsbeschränkung durch Medikation“
https://vertretungsnetz.at/fileadmin/user_upload/6_Bewohnervertretung/Manual_FBdMed.pdf
Studie FRALTERNA – Evaluierung von Freiheitsbechränkungen und altermativer Maßnahmen in Heimen (HeimAufG)
https://www.uibk.ac.at/irks/projekte/fralterna.html.de
AutorIn: Alice Bauer
Zuletzt aktualisiert am: 29.06.2024
Artikel-Kategorie(n): Eugenik und Menschenwürde, News
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