Am 27. Februar 2025 wurde das neue Regierungsprogramm für die Jahre 2025 – 2029 vorgestellt. Vor allem der Bereich „Inklusive Bildung“ lässt mit positiven Entwicklungen aufhorchen, wirft aber auch Fragen auf. Team Behindertenarbeit.at hat Bildungsexperte Dr. Tobias Buchner um Antworten gebeten.
„Jetzt das Richtige tun. Für Österreich“ lautet der Titel des neuen Regierungsprogramms, das von ÖVP, SPÖ und NEOS im Wiener Parlament präsentiert wurde. Das 210-seitige Programm beinhaltet auch wichtige Themenbereiche für Menschen mit Behinderungen, darunter die Schwerpunkte Barrierefreiheit, De-Institutionalisierung und inklusive Bildung.
Unterschiedliche Behindertenrechtsorganisationen begrüßten in einer ersten Stellungnahme das klare Bekenntnis zur UN-Behindertenkonvention und zeigten sich erfreut darüber, dass langjährige Forderungen endlich aufgegriffen wurden. Insbesondere der Bereich der inklusiven Bildung, der bei der UN-Staatenprüfung im Jahr 2023 noch stark bemängelt wurde, weist einige neue Regelungen auf. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings: Nicht alle Vorhaben sind konkret durchdacht, der Wortlaut ist teils unklar. Ein Grund, warum sich Team Behindertenarbeit.at mit konkreten Fragen an den Bildungsexperten Dr. Tobias Buchner gewandt hat.
Tobias Buchner war bis 11. März 2025 zwei Jahre lang als Vorsitzender des Unabhängigen Monitoringausschusses tätig und leitet das Institut für inklusive Bildung an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich.
Inklusive Bildung im neuen Regierungsprogramm – ein Interview mit Tobias Buchner
Team Behindertenarbeit.at: Mit dem neuen Regierungsprogramm wurde ein Rechtsanspruch auf ein 11. und 12. Schuljahr für Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf eingeführt. Welchen Unterschied macht dieser Rechtsanspruch in der Praxis?
Dr. Tobias Buchner: Durch den Rechtsanspruch haben Schüler:innen ein Recht darauf, ein 11. und 12. Schuljahr zu absolvieren. In der Praxis bedeutet das: die Schulbehörden und Schulleiter:innen dürfen ihnen den Besuch nicht mehr verwehren. Bisherige Argumente wie z.B. mangelnde Ressourcen oder fehlende Räume dürfen nicht mehr herangezogen werden, um den weiteren Schulbesuch zu verweigern. Schüler:innen mit Behinderungen können sich durch den Rechtsanspruch besser dagegen wehren, wenn sie trotzdem an der Absolvierung eines 11. und 12. Schuljahres gehindert werden.
Behindertenarbeit.at: Unseres Wissens bestehen Probleme nicht nur bei der Bewilligung, sondern auch beim Angebot eines 11. und 12. Schuljahres. So war dieses in der Regel bisher mit einem Schulwechsel verbunden, es gab keinen wirklichen Lehrplan und keine Nachmittagsbetreuung – sind hier Verbesserungen zu erwarten?
Buchner: Es ist schwer zu sagen, wie die Verbesserungen aussehen werden, denn zusätzlich zum Rechtsanspruch müssen die Rahmenbedingungen und Ressourcen vorhanden sein, damit ein weiterer Besuch des 11. und 12. Schuljahres auch real möglich ist. Das erfordert Ressourcen, allen voran personelle und räumliche, sowie umfassende Assistenz in der Schule für Schüler:innen mit Behinderungen. Es ist zu befürchten, dass diese erforderlichen Ressourcen für ein qualitätsvolles 11. und 12. Schuljahr aufgrund des Sparprogramms fehlen. Im Falle einer Bewilligung war es bisher überwiegend die gelebte Praxis, dass die beiden Schuljahre lediglich in Sonderschulen absolviert werden konnten – diese Praxis widerspricht der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die auch hier ein inklusives Miteinander von Schüler:innen vorsieht.
“Da das Vorhaben unter explizitem Budgetvorbehalt steht, ist äußerst fraglich, ob die Regierung hierfür überhaupt Budget zur Verfügung stellen kann.”
Behindertenarbeit.at: Das neue Regierungsprogramm beinhaltet eine “Anhebung der Deckelung für den sonderpädagogischen Förderbedarf ab 2027 unter Budgetvorbehalt. Wie schätzen Sie diese Regelung ein – auch in Hinblick auf den Begriff “Budgetvorbehalt”?
Buchner: Eine Anhebung der Deckelung für Ressourcen ist ab 2027 in Höhe von 25 Mio. Euro (4,5 %) geplant, allerdings unter Budgetvorbehalt. Eine Erhöhung der Ressourcen von derzeit 2,7 % auf 4,5 % ist grundsätzlich zu begrüßen – der Unabhängige Monitoringausschuss hat in den letzten Jahren mehrmals darauf aufmerksam gemacht, dass inklusive Bildung chronisch unterfinanziert ist. Schließlich führte die bisherige Deckelung von 2,7 % dazu, dass Ressourcen für Schüler:innen mit SPF nicht auseichend vorhanden waren. Konkret bedeutete das: weit weniger Lehrpersonenstunden und unzureichende personelle Unterstützung für Schüler:innen mit SPF als eigentlich benötigt. Deshalb ist jede Anhebung der Ressourcen wichtig, allerdings stellt sich die Frage, ob 25 Mio. Euro bzw. eine Anhebung der Deckelung auf 4,5 % dafür ausreichend sein werden. Da das Vorhaben unter explizitem Budgetvorbehalt steht, ist äußerst fraglich, ob die Regierung hierfür überhaupt Budget zur Verfügung stellen kann.
Behindertenarbeit.at: Welche Punkte im neuen Regierungsprogramm zum Thema inklusive Bildung halten Sie außerdem für relevant? Wo hätten Sie sich mehr erwartet?
Buchner: Im Regierungsprogramm ist zum Beispiel geplant, dass die Sonderschulen und der Fachbereich Inklusion, Diversität und Sonderpädagogik weiterentwickelt werden. Kinder und Jugendliche ohne Behinderung sollen so genannte Integrationsklassen in Sonderschulen besuchen dürfen, um dort mit Kindern mit Behinderungen gemeinsam zu lernen. Aus Sicht des Unabhängigen Monitoringausschusses ist das kein klares Bekenntnis zur notwendigen Transformation von Sonderschulen in Richtung Inklusion. Die Öffnung der Sonderschulen ist zwar ein erster wichtiger Schritt zum Aufbau eines tatsächlich inklusiven Bildungssystems im Sinne von Artikel 24 (UN-BRK). Es fehlt jedoch – und das haben wir immer wieder gefordert – an konkreten Maßnahmen- und Etappenplänen für einen solchen Prozess. So bleibt unklar, wie viele Klassen inklusiv werden sollen und an wie vielen Sonderschulen. Ein solcher Plan ist dringend unter der Einbeziehung von Behindertenorganisationen, Monitoringausschuss und Behindertenanwaltschaft gemeinsam zu entwickeln. Schließlich sind ambitioniertere und klar definierte bundesweite Ziele und Maßnahmen, weg von den Sonderschulen hin zu einem wirklich inklusiven Bildungssystem erforderlich. Das Regierungsprogramm bleibt in dieser Hinsicht hinter den Vorgaben von Artikel 24 UN-BRK und den Handlungsempfehlungen des UN-Fachauschusses im Rahmen der letzten Staatenprüfung 2023.
„Es fehlt an konkreten Maßnahmen- und Etappenplänen“
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass im Bereich der inklusiven Bildung zwar wichtige Schritte gesetzt wurden, konkrete Umsetzungspläne jedoch großteils fehlen. Besonders problematisch ist, dass einige Maßnahmen “unter Budgetvorbehalt” beschlossen wurden, womit eine tatsächliche Realisierung fraglich bleibt, wie auch Buchner auch im Interview kritisiert.
Der Unabhängige Monitoringausschuss fordert jedenfalls eine stärkere Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen bei der Umsetzung der Maßnahmen. Eine gute Zusammenarbeit von Regierung und Behindertenorganisationen, Monitoringausschuss und Behindertenanwaltschaft wird in den nächsten Monaten wesentlich sein, damit ein wirklich inklusives Bildungssystem geschaffen werden kann.
Team Behindertenarbeit.at bedankt sich bei Tobias Buchner sehr herzlich für die ausführlichen und informativen Antworten.
Das Regierungsprogramm 2025 – 2029 als PDF:
Regierungsprogramm_2025
AutorIn: Redaktion
Zuletzt aktualisiert am: 17.03.2025
Artikel-Kategorie(n): News, Schulische Integration
Permalink: [Kurzlink]