Am 20.09.2012 fand der 16. Österreich-Tag im Wiener Rathaus statt. Der Österreich-Tag ist eine etablierte Veranstaltungsreihe des Vereins zur Förderung der Anliegen behinderter Menschen (VFM). Das diesjährige Thema „Geboren um zu Leben – Möglichkeiten und Grenzen von Medizin und Gesellschaft“, wurde anhand von drei hochkarätig besetzten Vortragsblöcken mit anschließenden Podiumsdiskussionen erörtert. An dieser Stelle ein Rückblick auf die Vorträge der Experten/innen.
Der Mensch als „(Selbst) Zweck“
Prof. Herbert Pietschmann vom Institut für Theoretische Physik der Universität Wien ging in seinem Vortrag der Frage „Was ist der Mensch!?“ nach. Zu Beginn erfuhren die Teilnehmer/innen, dass sich alle Fragen der Menschheit letztlich auf folgende drei von Kant aufgeworfene Fragen reduzieren ließen:
1. Was kann ich wissen?
2. Was darf ich hoffen?
3. Was soll ich tun?
Immanuel Kant geht davon aus, dass jeder Mensch als Zweck an sich selbst existiert. Der praktische Imperativ, der weitaus unbekannter als Kant’s kategorischer Imperativ ist, sagt aus, dass Menschen niemals nur als Mittel, sondern als „(Selbst) – Zweck“ dienen. Jeder Mensch ist also immer schon Zweck und darf nicht als ein bloßes Mittel für einen fremden Zweck reduziert werden.
Die Würde eines Menschen, so Prof. Pietschmann weiter, besteht in seiner Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit. Somit ist kein Mensch austauschbar. Das gilt für jeden Menschen, völlig unabhängig von seiner Herkunft, seinem Geschlecht, seiner Hautfarbe und insbesondere von seiner Unversehrtheit oder Behinderung, so Pietschmann abschließend.
Pränatale Tests werfen schwierige ethische Fragen auf
Prof. Peter Husslein, Vorstand der Universitätsklinik für Frauenheilkunde am AKH Wien ließ das vorwiegend weibliche Publikum zu Beginn seines Vortrages wissen, dass er sich vor seiner Teilnahme am 16. Ö-Tag etwas gefürchtet hat. Dieses Unbehagen beziehe sich auf seine Art und Weise zu formulieren. Da halte er es nämlich mit Sir Popper’s Maxime „In heiklen Bereichen muss man scharf formulieren“. In diesem Sinne sei jeder Schwangerschaftsabbruch eine Tötung. Der neue „Trisomie 21 Test“ ist eine Revolution unter den pränatalen Tests. Alle pränatalen Tests, insbesondere dieser, werfen eine Fülle von Problemen und neuen, schwierigen ethischen Fragen auf.
Prof. Husslein ging kurz auf die österr. Rechtslage ein, nach der ein Schwangerschaftsabbruch vor der so genannten „Dreimonatsfrist“ keiner medizinischen Indikation bedarf und aus jedem Grund von der Frau vorgenommen werden kann. Ab der „Dreimonatsfrist“ kann ein medizinisch indizierter Abbruch grundsätzlich bis „zum Beginn der Wehentätigkeit“ durchgeführt werden. Da ein Kind bei Wehenauslösung ab der 22. Schwangerschaftswoche lebend zur Welt kommen könnte „ist es erforderlich, in den eher seltenen Fällen jenseits dieser kindlichen Lebensgrenze vor einer Wehenauslösung einen Fetozid vorzunehmen.“ Dabei wird das Kind durch einen Nadelstich der durch die Bauchdecke der Mutter direkt in das Herz des Kindes führt, getötet.
Dies kann verhindert werden, so Husslein, wenn durch Pränataldiagnostik immer früher schwerwiegende Behinderungen erkannt werden können. Der derzeitige Trisomie 21 Test hat eine hohe Treffsicherheit und verhindere punktionsassoziierte Fehlgeburten, so Husslein.
„Handfeste Solidarität“
Prof. Paul M. Zulehner, Pastoraltheologe an der Universität Wien erzählte aus seinen persönlichen Erfahrungen mit seinem verstorbenen behinderten Bruder Hans, der „unser aller Lehrmeister“ war. Zulehner sprach davon, dass uns Menschen mit Behinderung handfeste Solidarität lehren und unsere Gesellschaft damit schützen, als eine Gesellschaft der Starken und Gesunden sozial zu erkalten.
Entschlüsselung des genetischen Codes von Ungeboreren
Dr. Elisabeth Krampl – Bettelheim von der Universitätsklinik für Frauenheilkunde vom AKH Wien sprach über Möglichkeiten und Grenzen der Pränataldiagnostik. Sie nannte die drei Hauptursachen für Tod und Behinderung: Fehlbildungen, Frühgeburt und Plazentainsuffizienz (ungenügende Versorgung des Kindes durch den Mutterkuchen).
In der Praxis würden viele Eltern die Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs wählen, wenn sie die Diagnose „die Lebensqualität stark einschränkende schwere Fehlbildungen“ erhalten. Aus dem Publikum kamen anschließend Fragen wie ‚was ist schwer’ oder ‚was heißt Lebensqualität und wann ist diese eingeschränkt’. Auch die Frage ob Mediziner/innen überhaupt Kontakt mit behinderten Menschen haben oder Kontakt zwischen Eltern und Menschen mit Behinderung herstellen können.
Dr. Kampl – Bettelheim führte an, dass mithilfe der Pränataldiagnostik immer früher schwere Behinderungen erkannt werden können und so eine späte Abtreibung verhindert werden kann. Sie verwies ebenfalls wie ihr Kollege Dr. Husslein auf die problematischen ethischen Fragen die auf uns zukommen, wenn bereits durch das Blut der Mutter der gesamte genetische Code des ungeborenen Kindes entschlüsselt werden kann.
Was ist eine „schwere Behinderung“?
Renate Mitterhuber, die nach eigenen Angaben über 4000 Geburten in 30 Berufsjahren begleitete und auch ausgebildete Trauerbegleiterin und Psychotherapeutin ist, berichtete vom Umgang der Eltern mit der Tatsache ein behindertes Kind geboren zu haben. Sie berichtete von Situationen in denen die Frau von ihrem Mann, dessen oder ihren eigenen Eltern dazu überredet wurde das behinderte Kind abzutreiben. Die Trauerphase gestaltet sich von Frau zu Frau unterschiedlich lange. Sie schlägt den Frauen bzw. Paaren oft vor, Abschied in Form eines Rituals zu nehmen. Sie gibt auch zu bedenken, dass „schwere Behinderung“ von Ärzten oft nicht präzise genug erklärt wird und es vorkam, dass ein Paar sich nach dieser Diagnose zu einer Abtreibung entschied. Später erfuhren sie, dass es ein Kind mit Down Syndrom war. Es ist weithin bekannt, dass Menschen mit Down Syndrom ein gutes Leben führen können, so einige wortgleiche Meldungen aus dem Publikum.
lobby4kids
Dr. Irene Promussas, Obfrau der lobb4kids – Kinderlobby, erzählte ihre eigene Geschichte und wie diese sie schließlich zur Vereinsgründung führte. Dr. Promussas Tochter hat eine seltene genetische Erkrankung. Sie kennt das Gefühl während bzw. nach der Schwangerschaft die Diagnose „behindertes Kind“ zu erhalten. Anfangs beginnt diese Zeit mit einer Trauerphase, die laut Promussas, auch zugelassen werden sollte. Das Familien oft ungeahnte Ressourcen bei der Bewältigung ihres Alltags entwickeln, komme oft vor. Denn meist ist es nicht die Behinderung des Kindes selbst, die das Leben schwierig macht, sondern die Bürokratie des Gesundheits- und Sozialsystems. Deshalb habe sie den Verein lobby4kids gegründet – um die vielen wichtigen Informationen zu bündeln und weiterzugeben.
Selbstbestimmung über Fruchtbarkeit und Sexualität
DDr. Christian Fiala vom Gynmed Ambulatorium berichtet mit seiner Präsentation über geschichtliche und international ausgeprägte Formen der Selbst- und Fremdbestimmung schwangerer Frauen. Viele Demokratien haben in Friedenszeiten den Weg der Selbstbestimmung gewählt. Trotzdem war der Kampf über die Selbstbestimmung von Fruchtbarkeit und Sexualität ein langer. Es ist jedoch offensichtlich, so Fiala, dass es keine vernünftige Alternative zur Selbstbestimmung von Frauen und Männern diesbezüglich gibt. Es sei Aufgabe des Staates, Rahmenbedingungen zu schaffen, die es Frauen und Männern ermöglichen, ihre Entscheidungen umzusetzen – insbesondere wenn es um die Vorbeugung ungewollter Schwangerschaften oder den gewollten Abbruch einer Schwangerschaft durch die Frau geht.
Die genetische Beratung als „Entscheidungsfalle“
Prof. Barbara Duden vom Institut für Soziologie und Sozialpsychologie der Leibniz Universität Hannover ging in ihrem Vortrag dem Untergang der Geburt durch die ‚Entscheidungsfalle’ nach. Sie stellte die selbstbestimmte Entscheidungsfindung der Frau in Beratungsgesprächen in Frage. Insbesondere knüpfte sie an eine Untersuchung an, die sich mit der Entscheidungsfreiheit in der so genannten genetischen Beratung, beschäftigt. Hier sieht sich die Frau „unsichtbaren Gewalten“ gegenüber – nämlich biologische und gesellschaftliche Risiken, die sie mit ihrer Entscheidung verhindern könnte.
Präimplantationsdiagnostik = Bereitschaft zur Selektion menschlichen Lebens
Dr. Franz-Joseph Huainigg, Abgeordneter zum Nationalrat las unter anderem einige Passagen aus seinem Buch „Auch Schildkröten brauchen Flügel“. Seine Einstiegsfrage „Geboren um zu leben oder um zu funktionieren?“ kommentiert er, indem er darauf verweist, das jene, die heute nicht nach allgemeinen Vorstellungen funktionieren, schnell an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Er hebt hervor, dass eine Zulassung der Präimplantationsdiagnostik eine Bereitschaft zur Selektion manifestieren würde. Auch auf die europaweit bedenkliche Entwicklung der aktiven Sterbehilfe ging Huainigg ein. Der österreichische Weg sei es, nicht durch die Hand eines Menschen zu sterben, sondern an der Hand.
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Quelle: 16. Österreich-Tag
AutorIn: Isabell Supanic
Zuletzt aktualisiert am: 04.06.2015
Artikel-Kategorie(n): Eugenik und Menschenwürde, News
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