Die Problematik „gedeckelter Förderungen“ aus juristischer Sicht am Beispiel des Oö. Chancengleichheitsgesetzes.
Das Oö. Chancengleichheitsgesetz verspricht die nachhaltige Förderung und umfassende Eingliederung von behinderten Menschen in die Gesellschaft, um ihnen ein „normales Leben“ zu ermöglichen. Vorgesehene Maßnahmen sind Heilbehandlung, Frühförderung und Schulassistenz, Arbeit und fähigkeitsorientierte Aktivität, Wohnen, Persönliche Assistenz sowie mobile Betreuung und Hilfe. Auf diese Leistungen besteht – je nach Bedürfnis der Einzelperson – laut dem Gesetz auch ein Rechtsanspruch.
Das Oö. Chancengleichheitsgesetz wäre wohl ein „innovatives Gesetz“, wenn nur der eine Zusatz nicht wäre: Nur „nach Maßgabe der tatsächlich verfügbaren Ressourcen“ besteht dieser Rechtsanspruch. Mit anderen Worten: Der zur Verfügung stehende Betrag ist gedeckelt. Frei nach dem Motto „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“ werden die zur Verfügung stehenden Mittel also an die Antragsteller verteilt und den Behinderten eine Eingliederung in die Gesellschaft ermöglicht – oder eben auch nicht.
Volle Wartelisten und Inpflichtnahme der Angehörigen
Diese Situation führt in Oberösterreich dazu, dass insgesamt mehr als 7700 beeinträchtigte Personen auf eine Leistung nach dem Chancengleichheitsgesetz warten (siehe Bericht ORF OÖ vom 18.01.2014), obwohl sie alle geforderten Voraussetzungen erfüllen. Darunter befinden sich etwa 3500 Personen, die – unter Umständen seit mehreren Jahren – auf einen betreuten Wohnplatz warten. Dies bedeutet aber nicht nur ein einfaches Warten, sondern auch, dass sie bis zum Freiwerden eines Wohnplatzes von anderen Personen versorgt und betreut werden müssen, wie etwa von Angehörigen, die in vielen Fällen ihren Arbeitsplatz verlieren oder von Helfern, die aus eigener Tasche bezahlt werden müssen.
Unter den betroffenen Personen befinden sich auch rund 300 Menschen, die auf persönliche Assistenz warten und in der Zwischenzeit ein selbstbestimmtes Leben nach eigenen Vorstellungen nur in sehr beschränktem Maß führen können. Besonders problematisch gestaltet sich die Lage auch für junge behinderte Menschen, die nach der Schule keinen angemessenen Beschäftigungsplatz wie etwa eine Stelle in einer Tagesheimstätte finden und zu Hause viel Erlerntes wieder vergessen.
Chancen-Ungleichheits-Gesetz?
Als sogenanntes Chancengleichheitsgesetz führt diese Rechtsquelle letztlich aber zu zwei Klassen von behinderten Menschen und bewirkt somit paradoxerweise damit genau das Gegenteil dessen, was es verspricht. Durch die Teilung der beeinträchtigten Personen in zwei Gruppen – und zwar jene, die Leistungen aus dem Chancengleichheitsgesetz erhalten und jene, die sie nicht erhalten – schafft das Gesetz eine Chancen-Ungleichheit zwischen behinderten Menschen, deren einziger Grund das spätere Einreichen eines Antrages ist. Hier drängt sich die Frage, ob dies auch tatsächlich rechts- und verfassungskonform sein kann, geradezu auf.
Organisation der Finanzierung
Die geschilderte Situation ist keine oberösterreichische Ausnahme, sondern gestaltet sich auch in anderen Bundesländern ähnlich. Zuständig für die Regelung im Bereich der Maßnahmen für die Gleichstellung von Behinderten sind die Länder. Ihr Budget hingegen bekommen sie vom Bund, sodass die Länder die Verpflichtung zum Handeln beim Bund sehen. Gesamt betrachtet wird das Problem vom Bund auf die Länder geschoben und umgekehrt, als wirklich zuständig erachtet sich keiner.
Verfassungsrechtliche Fragen
Juristisch gesehen kann eine Übertragung von Kompetenzen nicht von der Verpflichtung, das notwendige Budget zur Verfügung zu stellen, befreien. In der Rechtswissenschaft wird die Meinung vertreten, dass der Rechtsanspruch einer Einzelperson auf eine finanzielle Leistung des Staates nicht mit dem Argument einer fehlenden Deckung im Bundesfinanzgesetz verweigert werden darf. Das Bundesfinanzgesetz ist jenes Gesetz, mit dem der Nationalrat das jährliche Budget des Staats genehmigt. Es stellt sich also einerseits schon die Frage, ob dieses Vorgehen des Gesetzgebers, die Deckelung im Gesetz zu verankern, rechtskonform ist.
Andererseits ist in diesem Zusammenhang auf den Gleichheitssatz, dem in der österreichischen Verfassung ein besonderer Stellenwert zukommt, hinzuweisen. Dieser bedeutet grundsätzlich, dass Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln ist. In einer speziellen Ausprägung aber besagt der Gleichheitssatz, dass eine Leistung, die der Staat einer Person unter bestimmten Voraussetzungen gewährt, einer anderen Person nicht verwehrt werden, wenn sie dieselben Voraussetzungen erfüllt. Dass die Gewährung des Anspruches auf eine Leistung nach dem Chancengleichheitsgesetz vom Zeitpunkt der Stellung des Antrages – und somit von einer reinen Zufallskomponente – abhängt, erscheint daher eher gleichheitswidrig.
Keine Parallele zum Pflegegeldgesetz
Anders gestaltet sich die Regelung beim Pflegegeld. Das Pflegegeldgesetz hat zum Ziel, „pflegebedürftigen Menschen die Möglichkeit zu bieten, sich die erforderliche Pflege und Betreuung zu sichern und so ein selbstbestimmtes und nach den persönlichen Bedürfnissen orientiertes Leben zu führen.“ Im Vergleich zum Chancengleichheitsgesetz also eine ähnliche Zielsetzung, sollte man meinen. Anspruch auf Pflegegeld hat jeder, der die Voraussetzungen erfüllt. Die Einstufung in die jeweilige Pflegestufe wird von Sachverständigen vorgenommen. Keine Deckelung, keine Zufallskomponenten, keine „Wartelisten“. Eine faire Regelung für alle Betroffenen.
Parallelen zur Förderung von Photovoltaik?
Angesichts dessen, dass es hier um grundlegende Menschen- und Grundrechte geht, scheint es grotesk, dass das Oö. Chancengleichheitsgesetz eher mit der Förderung von Solarzellen verglichen werden kann. Auch hier steht ein jährlich gedeckelter Betrag zur Verfügung. Alle Antragsteller, die in einem Jahr zu spät kommen, können es ja im nächten wieder versuchen, und dann wieder, und wieder.
Das Oö. Chancengleichheitsgesetz scheint behinderte Menschen ähnlich zu behandeln. Ein begrenzter Betrag wird für die Gleichstellung von Behinderten zur Verfügung gestellt, aber ist damit die Pflicht des Staates getan? Hat er damit die Pflicht zum Schutz und zur Herstellung der Freiheit, eigene und selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen, der vollen und wirksamen Teilnahme an der Gesellschaft, der sozialen Sicherheit?
Anna Stix studiert seit 4 Jahren Rechtswissenschaften an der Universität Wien und steht kurz vor dem Abschluss des Studiums.
AutorIn: Anna Stix
Zuletzt aktualisiert am: 16.06.2017
Artikel-Kategorie(n): Gleichstellung und Antidiskriminierung, Kommentare, News
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