Offener Brief von Wolfgang Begus, Obmann von Integration Tirol, an Bildungsministerin Heinisch-Hosek.
Sehr geehrte Frau Minister, sehr geehrte Frau Heinisch-Hosek,
Schon im August dieses Jahres wurden Sie von einem Kind mit Behinderung darauf Aufmerksam gemacht, dass es in Österreich KEINE WAHLFREIHEIT für Eltern von Kindern mit Behinderung gibt. Leider haben Sie bis heute auf das Schreiben von Sebastian nicht reagiert. Ich lege es Ihnen zur Erinnerung bei.
Es ist unklar warum Sie in der Öffentlichkeit immer noch „Wahlfreiheit“ reden. Klar ist allerdings, dass es diese – seit 1994 gesetzliche vorgesehene – Wahlmöglichkeit für Eltern bis heut nicht gibt. Zu ungleich ist die Ressourcenverteilung unter den Systemen. Es wäre also angebracht, in der Öffentlichkeit ein ehrlicheres Bild der Situation zu vermitteln.
Alleine die Richtlinie zur Schulassistenz an Bundesschulen stellt eine massive Diskriminierung durch Ihr Ministerium dar! Da werden Kinder sogar nach unterschiedlichen Diagnosen aussortiert. Das als „Wahlfreiheit“ medial darzustellen ist schlimmer als nur „gewagt“.
Zur Information: https://www.bmbf.gv.at/ministerium/rs/2013_04.html
An Bundesschulen (Gymnasien, Praxisschulen, etc..) können Kinder mit einer Körperbehinderung im Ausmaß der Pflegestufe 5, 6, oder 7 – und im (nichtdefinierten) Ausnahmefall auch Pflegestufe 3 Assistenzleistungen erhalten. Alle anderen Kinder mit Behinderung werden kategorisch ausgeschlossen und diskriminiert!
Darunter fallen z.B. massenhaft Kinder mit Down-Syndrom, alle Kinder mit der Diagnose „Autismus“ und „Autismus-Spektrum-Stärken“ (ASS), so gut wie alle gehörlosen Kinder, etc…
Dass kein Gymnasiallehrer mit einem Kind mit Pflegestufe 7 umgehen kann, macht das Rundschreiben schon beinahe kabarettreif. Wie sollen sich da Eltern „entscheiden“?
Nennen Sie das allen Ernstes „Wahlfreiheit“?
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Ihre BeamtInnen im Ministerium dieses „Rundschreiben“ höher bewerten (müssen) als die österreichische Gesetzeslage.
Nennen Sie das allen Ernstes „verfassungskonform und gesetzeskonform“?
In den Landesschulen (Volksschulen und NMS) sieht es nur wenig besser aus:
Sonderschulen sind durch LehrerInnenschlüsses und Klassenteilungszahlen massiv bevorzugt. Mobile Therapien in Wohnortschulen werden nicht finanziert, dafür wird an Sonderschulen fast alles bezahlt, was das Herz begehrt. Sonderschul(SPZ)LeiterInnen begutachten die Kinder und beraten die Eltern. Diese „SPZ-LeiterInnen“ müssen aber ihre Schulen voll bekommen. Das tun sie auch auf teilweise sehr kreative Weise. Nicht umsonst ist der Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund an Sonderschulen so groß. Und Eltern von Kindern mit Behinderung müssen erfahren, dass fast alles an Sonderschulen möglich ist – und an den Wohnortschulen fast nichts.
Wenn die beratenden SPZ-LeiterInnen dann auch noch sagen, dass die „Wahlfreiheit“ bei den Eltern liegt, aber die Wahl für verantwortungsvolle Eltern ganz klar bei der Sonderschule liegen muss, weil die Wohnortschule zu schlecht ausgestattet ist und nicht über das nötige „know how“ verfügt, dann wundern mich die (teils schwermütigen) Entscheidungen der Eltern nicht.
Bitte bezeichnen Sie diese ressourcengesteuerte Aussonderung in der Öffentlichkeit doch nicht als „Wahlfreiheit“. Das hat mit einen Elternwahlrecht nichts zu tun!
Auch wenn Sie es in den Medien gern anders darstellen, aber selbstverständlich widersprechen Sonderschulen und die so beliebten „Integrationsstandorte“ der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung“ und auch den verfassungsmäßig garantierten „Kinderrechten“.
Kinder sozial zu entfremden ist in keiner der beiden Konventionen vorgesehen und widerspricht massiv dem „Kindeswohl“!
Kinder ohne Behinderung werden von normalen Lernprozessen über die Vielfalt an Meinungen, Verhaltensweisen und Lebensarten bewusst abgeschnitten und vom lebenslangen Leid vieler Kinder mit Behinderung durch Aussonderung mag ich als Vater, der dies gerade miterlebt, gar nicht reden. Allen Kindern wird durch diese unsägliche Trennung Normalität genommen und wichtige Lernprozesse werden verhindert.
Es gab in den Anfängen der österreichischen „Sozialdemokratie“ (die damals noch klarer beschrieben wurde) eine Reihe von PädagogInnen, die u.a. die „freie Schule Kinderfreunde“ als ein zukunftsorientiertes und (unbewusst) sogar als „inklusives“ Modell beschrieben. Von Ausgrenzung war nicht die Rede – vielmehr ging es um die Frage, wie Randgruppen in die Mitte geholt und dort bestmöglich gefördert werden können.
Mit einer „Wahlfreiheit“, die nur als leere Worthülse verwendet werden kann gelingt dies sicher nie. Wie soll Österreichs Bildungspolitik jemals aufrichtig und ehrlich Bildung vermitteln, wenn schon die Darstellung der Bildungspolitik unehrlich ist?
Deshalb möchte ich Sie von ganzem Herzen darum bitten, uns betroffene Eltern nicht länger mit dem Hinweis auf ein „Elternwahlrecht“ zur Befüllung von Sonderschulen zu missbrauchen, dies dann auch noch öffentlich als menschenrechtskonform darzustellen und so zu tun, als wäre die Sonderbeschulung unserer Kinder ein demokratisch legitimierter Wunsch von Eltern. Das entspricht nicht der Wahrheit! Wir nehmen nur, was wir bekommen können – und das ist alles andere als gut oder gar gerecht verteilt. Das ist bedauerlich und alles andere als im Sinne von Kinder- und Menschenrechten!
Es gibt so viel zu tun in Richtung einer guten gemeinsamen Bildung, bei der Kinder auch ein Gefühl füreinander bekommen können. Ein Aufnahmestopp an „ASOs“ (allgemeine Sonderschulen) für das kommende Schuljahr und die dringende Überarbeitung der unsäglich Bundesrichtlinie zur Schulassistenz wären da wesentlich konkretere und hilfreichere Schritte als der ewige Verweis auf eine Wahlfreiheit, die seit 1994 nicht ermöglicht wurde.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit und
freundliche Grüße
Wolfgang Begus
Obmann von Integration Tirol
www.integration-tirol.at
AutorIn: Wolfgang Begus
Zuletzt aktualisiert am: 16.06.2017
Artikel-Kategorie(n): News, Schulische Integration
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