Zum 9. Mal wurden literarische Texte von Menschen mit Lernbehinderungen mit dem Literaturpreis Ohrenschmaus ausgezeichnet
„Meine Seele läuft mir immer davon. Das merke ich, das krieg ich mit. Die Seele hat keine Füße, die Seele hat Flügel. Die Seele muss mit mir reden. Ich war nicht einverstanden als meine Seele gegangen ist. Ich hole sie mir zurück. Nächste Woche. […]“, schreibt Silvia Hochmüller in ihrem Kurztext „Die Seele“ aus der Werkgruppe „Freude, Die Seele, Ich bin nicht glücklich, Geheimnis, Glaube“, für die sie am 1. Dezember mit einem der drei Hauptpreise anlässlich der Preisverleihung des Literaturpreises Ohrenschmaus 2015 ausgezeichnet wurde. Sie arbeitet im Bereich Handwerk und Montage der Werkstätten St. Pius der Caritas für Menschen mit Behinderungen in Linz, gestaltet Skulpturen und erfindet dazu Geschichten. „Dieser Text klingt wie ein Selbstgespräch, wie ein Aufschrei. Man spürt ein tiefes Erschrecken darüber, dass immer wieder etwas verloren geht, in einem selbst. Es ist ein Appell an das eigene Ich, die Seele nicht aus dem Blick zu verlieren“, so der Laudator und Schriftsteller Heinz Janisch in der Begründung der Jury.
„Dieser Literaturpreis ist kein Sozialprojekt, sondern ein Kulturprojekt und soll das öffentliche Bild von behinderten Menschen nachhaltig verändern. Menschen mit Behinderung wollen etwas leisten – und können das auch, wie die zahlreichen hervorragenden Einsendungen beweisen. Zudem sollen die Literatinnen und Literaten durch die Ausschreibung dieses Literaturpreises motiviert werden, ihr Talent und ihre Leidenschaft zum Schreiben weiterzuverfolgen“, betonte Initiator und Abg.z.NR Franz-Joseph Huainigg im Rahmen der Preisverleihung.
Die weiteren Hauptpreise
Peter Gstöttmaier arbeitet in der Außengruppe Anlagenpflege der Lebenshilfe Grein und wurde für sein Mundart-Gedicht „dössöbi“ über die Telefonate mit seiner Mutter bereits zum fünften Mal im Rahmen des Literaturpreises ausgezeichnet, davon zum zweiten Mal (nach 2011) mit einem Hauptpreis. „Um Peter Gstöttmaiers hand- oder auch Computer geschriebene kurze oder längere Mundarttexte, die so scheinbar einfach, komplexe Lebensweisheiten ausdrücken, beispielsweise die Beziehung des Sohnes zu seiner Mutter, seine Angst um sie und seine Freude, kommt man einfach nicht herum“, betont Laudatorin Eva Jancak.
Hans-Martin Hiltner lebt in Deutschland in der Wohnstätte Katharina von Bora nahe Leipzig und erhielt einen Hauptpreis für seinen Lebensbericht „Was mir durch den Kopf geht und ich mit Hilfe aufschreiben möchte“. Er schildert darin Lebenserfahrungen, Schicksalsschläge und seine Wünsche. „Das ist aber nicht der Grund, warum wir – die Jury – diesen Text mit dem 1. Preis auszeichnen“, begründet Laudator und Ohrenschmaus-Schirmherr Felix Mitterer. „Der eigentliche Grund für uns ist die Haltung dieses Hans-Martin Hiltner, die uns regelrecht umgeworfen hat, uns mit Staunen und Dankbarkeit erfüllt hat. Nämlich, dass da einer trotz all dieser Schicksalsschläge, die er uns ganz lakonisch berichtet, dass so einer nicht der Verzweiflung anheimgefallen ist, dass so einer nie den Lebensmut, nie den Humor verloren hat, sondern sich im Gegenteil an seinem Leben erfreut und noch dazu seiner Mutter, seinen Verwandten, all seinen Mitmenschen ohne Unterlass Freude bereitet. ‚Ist das Leben nicht schön?‘ lautet der letzte Satz in seinem Text. Zu so einem Mitmenschen können wir uns alle nur gratulieren“.
Kurztext für die Ohrenschmaus-Schokolade
Der Siegertext „See“ der Schweizerin Johanna Maria Ott ziert heuer das Innere der Banderole der eigens für den Literaturpreis Ohrenschmaus gestalteten Schokolade der Schokoladenmanufaktur Zotter. Sie beschreibt eine Sommernacht an einem See, aus dem ein wunderschönes Mädchen steigt: „[…] Johanna war ihr Name, und sie legte sich neben einen Jungen und er streichelte sie am Rücken und am Kopf und sie schmolz“. Seit ihrem 18. Lebensjahr schreibt Johanna Maria Ott mit einer speziellen Tastatur und einem Kopfhelm und setzt sich als Mitbegründerin im Verein „leben wie du und ich“ aktiv für Menschen mit komplexen Behinderungen ein, die mit Assistenz selbstbestimmt leben möchten. „Das Mädchen schmolz? Ja, das Mädchen schmolz. […] Zwar wird es gestreichelt, das Mädchen, am Rücken und am Kopf, aber schmelzen tut es selber, wie der Schnee oder ein Stück Schokolade. Johanna Maria Otts kurze Prosa ‚See‘, in der das Mädchen schmilzt, ist nach Meinung der Jury heuer der ideale Schleifentext für die Ohrenschmaus-Schokolade“, so Laudator Ludwig Laher.
Preis zum neunten Mal vergeben
Der Literaturpreis Ohrenschmaus wurde heuer im Beisein von Abg.z.NR Karlheinz Töchterle und Sektionschef Manfred Pallinger (BMASK) zum neunten Mal vergeben. „Dabei geht es nicht um Mitleid, sondern um ausgezeichnete Literatur von Menschen mit Lernschwierigkeiten. Lernbehinderte Menschen haben sehr viel zu sagen – wir unterstützen sie dabei, damit an die Öffentlichkeit zu kommen“, so die Organisatoren.
Neben den Hauptpreisen zeichnete die Jury des Ohrenschmauses bestehend aus Felix Mitterer, Franzobel, Eva Jancak, Heinz Janisch, Ludwig Laher und Barbara Rett zudem Textbeiträge von sieben Menschen mit Lernbehinderung auf einer Ehrenliste aus. Gemeinsam mit den Partnerorganisationen Caritas, Diakonie, Jugend am Werk, Lebenshilfe und Vienna People First wurde den Preisträgerinnen und Preisträgern des Literaturpreises Ohrenschmaus 2015 gratuliert.
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AutorIn: Redaktion
Zuletzt aktualisiert am: 18.06.2017
Artikel-Kategorie(n): Menschen mit Lernschwierigkeiten, News
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