Wo endet das Schutzbedürfnis behinderter Menschen und wo beginnt die Diskriminierung? Ungarns Regierung wählt einen gefährlichen Weg in der Behindertenintegration und setzt sich des Verdachts der Diskriminierung aus.
Menschen mit Lernschwierigkeiten sind zu viel mehr in der Lage, als man bislang geneigt war anzunehmen. Eine moderne Behindertenpolitik versucht das Prinzip der Selbstbestimmung bestmöglich umzusetzen: Freier Umgang mit Taschengeld, freie Berufswahl, freie Entscheidung über das Eingehen einer sexuellen Beziehung und die Gründung einer Familie. Doch wie weit kann die Freiheit für intellektuell beeinträchtigte Menschen gehen?
Wahlrecht: Wer darf, wer darf nicht und weshalb…
Beim Wahlrecht ist Schluss, so sieht es zumindest die umstrittene Rechtsregierung Ungarns. Mit der neuen Verfassung in Ungarn, die Anfang 2012 in Kraft treten soll, ist ein Ausschluss von geistig behinderten Menschen aus den Wahln geplant. Waren bislang schwer geistig und psychisch behinderte Menschen nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen, so erlebt diese Personengruppe nun einen historischen Backlash und den Ausschluss vom aktiven Wahlrecht. BehindertenaktivistInnen protestieren europaweit.
In Deutschland dürfen besachwaltete Menschen in bestimmten Fällen nicht wählen gehen. In Österreich wurde eine ähnliche Regelung vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben. Begründung: Das Verbot nimmt in keiner Weise darauf Rücksicht, worin die Ursache der Besachwalterung liegt. Außerdem werde dadurch der Gleichheitsgrundsatz verletzt: Geistig behinderte und psychisch kranke Menschen, die in einer Einrichtung leben, sind häufig nicht besachwaltert, da die jeweilige Institution für die Aufgaben eines allfälligen Sachwalters aufkommt. So kann ein- und dieselbe Behinderung Mal zum Entzug des Wahlrechts führen und ein anderes Mal nicht.
Was braucht’s zum Wählen?
Kritiker eines Ausschlusses von Lernbeeinträchtigten vom Wahlrecht bemängeln auch, dass intellektuelle Beeinträchtigungen keineswegs politische Meinungsbildung ausschließt. Soziales Denken, Einsatz für Natur und Umwelt, Gleichberechtigung und vieles mehr seien Entscheidungen, die jeder treffen kann und für die es keiner besonderer intellektueller Reflexion bedarf.
Zwischen Hilfe und Diskriminierung
Hinter der Diskussion um das Wahlrecht steht jedoch ein größeres Problem: Was traut die Gesellschaft behinderten Menschen zu? Von welchen gesellschaftlichen Praktiken schließt eine Gemeinschaft Menschen mit Behinderung aus? Wo endet der Schutz von Hilfsbedürftigen und wo beginnt die Diskriminierung? Diese Fragen stellen sich wohl nicht bloß in Ungarn und nicht ausschließlich in Zusammenhang mit dem Wahlrecht.
Quelle: ENIL European Network on Independent Living
AutorIn: Redaktion
Zuletzt aktualisiert am: 04.06.2015
Artikel-Kategorie(n): Behindertenpolitik, News
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