Alt, vereinsamt, beschimpft und geschlagen: In Europa werden Senioren häufig Opfer von Gewalt in der Familie, das geht aus einem kürzlich veröffentlichten Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hervor.
10.000 ältere Menschen werden in Europa täglich misshandelt
Sie werden geschlagen oder getreten, weil sie nicht allein essen können, sich nicht allein versorgen oder die tägliche Hausarbeit verrichten können. Das geht aus einem kürzlich veröffentlichten Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hervor, in dem die Situation älterer Menschen in 53 Ländern der europäischen Region der WHO – darunter auch Österreich – beleuchtet wird. Die Studie geht sogar davon aus, dass jährlich bis zu 2500 Senioren von ihren Familienangehörigen umgebracht werden.
„Europas Bevölkerung wird immer älter und das Problem daher immer größer“, sagt Dinesh Sethi von der WHO im Gespräch mit der „Presse“. Daher müsse man zuerst einmal erkennen, dass physische und psychische Gewalt gegen alte, pflegebedürftige Menschen ein gesellschaftliches Problem darstellten und dann dagegen vorgehen. „Die einzelnen Staaten sollten sich Gedanken über nationale Pläne machen, die auch Gewalt gegen alte Menschen einschließen“, meint Sethi. Die erschreckenden Ergebnisse der WHO-Studie: Die meisten Übergriffe finden in den eigenen vier Wänden statt, und die Täter sind am häufigsten die Ehepartner, aber auch die Kinder oder Schwiegerkinder, manchmal die Enkel.
Die Palette der angewendeten Gewalt reicht von Anschreien und Beleidigen über Schlagen und Einsperren bis zum Entzug von finanziellen Mitteln, Diebstahl oder Erpressung. Die WHO berichtet sogar von Fällen der absichtlichen Verbrennungen oder Verstümmelungen mit einem Messer.
Situation in Österreich beleuchtet
Zusätzlich wurden in den untersuchten Ländern 29 Millionen Pensionisten Opfer von psychischer Gewalt (Drohungen oder Beleidigungen), sechs Millionen wurden finanziell geschädigt (Diebstahl und Betrug) und eine Million vergewaltigt oder sexuell belästigt. Demenzkranke oder Behinderte sind einem höheren Missbrauchsrisiko ausgesetzt, weil sie von ihrer Familie oder ihren Pflegern stark abhängig sind. Generell ist das Problem in armen Ländern größer: Laut der WHO-Studie sind dort vor allem alte Menschen in den ärmsten Gesellschaftsschichten betroffen. Sozial isolierte und vereinsamte Senioren werden eher misshandelt als jene, die mit beiden Beinen im Leben stehen.
Ein Teil der Studie beschäftigt sich mit der Situation in Österreich. Dazu wurden Frauen befragt, die älter als 60 sind und zu Hause leben. Von den befragten knapp 600 Pensionistinnen gaben 23,8 Prozent an, im vergangenen Jahr Opfer von emotionaler Gewalt geworden zu sein. 6,1 Prozent fühlten sich vernachlässigt, weil man ihnen keine Unterstützung bei der Hausarbeit oder beim Einkaufen gab.
„Die Verweigerung von Hygiene oder Körperpflege kam aber nicht vor“, erklärt Edith Enzenhofer vom Forschungsinstitut des Roten Kreuzes, Ko-Autorin der Österreich-Studie. „Immerhin 4,5 Prozent der älteren Österreicherinnen gaben an, dass sie verschiedene Formen der Gewalt erlebt haben und das sehr oft“, sagt Enzenhofer. Aber: Man müsse auch festhalten, dass drei Viertel der Befragten nie mit Gewalt konfrontiert waren.
Frauenministerin präsentiert Studie über Gewalt gegen ältere Frauen
Die Studie ‚Partnergewalt gegen ältere Frauen‘ wurde europaweit durchgeführt, der Österreichteil, verfasst von Birgitt Haller und Helga Amesberger vom Institut für Konfliktforschung, wurde heute im Palais Dietrichstein präsentiert, sie ist unter http://www.ikf.ac.at/pdf/IPVOW_Austria_Deutsch_final.pdf abrufbar.
„Die Gewalterfahrungen von älteren Frauen, das heißt Frauen ab 60, stellen sich oft ganz anders dar als bei Jüngeren. Die Frauen wissen meist nicht, wo sie Hilfe finden könnten und bleiben in sich verschlossen“, so die Frauenministerin. Es gebe zehn gesetzlich verankerte Gewaltschutzzentren sowie 110 Mädchenzentren und Frauenberatungsstellen und die Frauenhelpline 0800 222 555. Kürzlich sei außerdem vom Ministerrat auch der Ausbau der Opferschutzgruppen in den Spitälern beschlossen worden. „Wir müssen die Hilfsorganisationen für das Problem sensibilisieren und die Ansprechstellen den Betroffenen bekannt machen. Kurzum: Auf die Gewalt gegen ältere Frauen muss endlich aufmerksam werden.“
Während sich Pflegeeinrichtungen nicht mit häuslicher Gewalt befassen, gebe es kaum Einrichtungen, die sich mit häuslicher Gewalt gegen ältere Frauen schwerpunktmäßig beschäftigen, erklärte Studienautorin Birgitt Haller. So fänden ältere Frauen oft keine Ansprechstelle. Schulungen für Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen, Psychologen und Psychologinnen sowie Ärzte und Ärztinnen sollen es den direkt befassten Berufsgruppen erleichtern, Gewalt zu erkennen und darauf zu reagieren.
Sozialminister Rudolf Hundstorfer: „In Summe wurden bereits 100.000 Folder verteilt, um aufmerksam zu machen, Gewalt zu erkennen und Hilfseinrichtungen bekannt zu machen. Einen weiteren wichtigen Schritt setzen wir mit der Workshopreihe ‚Regionale Beratungskompetenz‘, bei der wir nun in regionalen Workshops die traditionellen Seniorenverbände mit Beratungsstellen und Frauenhäusern und städtische wie ländliche Institutionen vernetzen“.
Frauenministerin Heinisch-Hosek bekräftigte abschließend, dass man nun alle Hilfsorganisationen, Ansprechstellen, aber auch Institutionen wie die Ärztekammer auf die Probleme der Zielgruppe aufmerksam machen werde.
Link:
www.who.int/publications/en/
Quelle: APA, diepresse.com
AutorIn: Redaktion
Zuletzt aktualisiert am: 04.06.2015
Artikel-Kategorie(n): News, Soziale Arbeit und Begleitung
Permalink: [Kurzlink]