Schlecht oder sehr schlecht? USA und Großbritannien streiten um den Titel „übelstes Gesundheitssystem der westlichen Welt“. Während Amerikaner aus der Ferne neidisch auf die soziale Krankenversicherung des Vereinten Königreichs schielen, liegt auch das Gesundheitswesen auf der Insel längst in den letzten Zügen.
In den USA bedeutet eine Erkrankung nicht bloß ein gesundheitliches Risiko, sondern auch ein finanzielles: Die meisten der zahlreichen privaten Krankenversicherungen decken bei weitem nicht alle Kosten im Krankheitsfall ab. Hohe Selbstbehalte sind die Regel, viele Leistungen werden erst gar nicht übernommen. Hinzu kommt, dass nicht jede/r US-BürgerIn über eine Versicherung verfügt: Arbeitslose, KleinunternehmerInnen und Teilzeitarbeitskräfte können sich die hohen Kosten der Krankenversicherung häufig einfach nicht leisten. Zudem haben Versicherer zum Teil die Möglichkeit, chronisch Kranke zu kündigen bzw. sogenannte RisikopatientInnen erst gar nicht unter Vertrag zu nehmen. Das Gesundheitswesen ist ein profitables Geschäft für Versicherer und Krankenanstalten – freilich auf dem Rücken der Versicherungsnehmer und Patienten.
Vorbild Großbritannien?
Bereits vor vier Jahren hat diesen Missstand der US-amerikanische Regisseur und Gesellschaftskritiker Michael Moore in seinem Dokumentarfilm „Sicko“ vehement kritisiert. Die in der Zwischenzeit von Präsident Obama durchgeführten Reformen haben mehr Bürgern Zugang zu einer allgemeinen Krankenversicherung gegeben, am grundsätzlichen Problem der kommerziellen Ausrichtung des Gesundheitssystems hat sich allerdings wenig bis gar nichts geändert. Moore führte in seiner aufwühlenden Doku Großbritannien als leuchtendes Beispiel für die USA an: Gratis Gesundheitsversorgung für jeden Bürger, Finanzierung der Spitäler und Ärzte direkt aus Steuergeld ohne Umweg einer (privaten oder staatlichen) Krankenversicherung, glückliche Ärzte und Ärztinnen, zufriedene Patientinnen und Patienten, alles eitel Wonne!
Die triste Realität
Aus (kontinental-)europäischer Sicht ist die Kritik am US-Gesundheitssystem leicht nachvollziehbar, die Begeisterung für das britische Krankenwesen jedoch etwas irritierend: So ist innerhalb und außerhalb des Vereinten Königreichs unumstritten, dass das nationale Gesundheitssystem (NHS) im Vergleich zu den meisten anderen westeuropäischen Staaten massiv hinterherhinkt. Lange Wartezeiten auf dringende Operationen (Krebs), schlechte Akutversorgung bei Unfällen, die Weigerung der Durchführung von nicht lebensnotwendigen Maßnahmen ab einem gewissen Alter der PatientInnen und erschütternde Geschichten über Pflegemängel und schlecht qualifizierte Ärzte dominieren die britische Presse.
Geldspritzen statt Reformen
Die Labour-Regierungen von Tony Blair (1997 – 2007) und Gordon Brown (2007 – 2010) versuchten die Misere durch mehr oder weniger gezielte Finanzspritzen für besonders übel beleumdete Krankenanstalten und miserable Versorgungsregionen zu mildern. Echte Strukturreformen blieben aus. Dass die NHS an Haupt und Glieder erneuert werden müsse, war Konsens unter den politischen Parteien, eine ernsthafte Umsetzung wurde jedoch nie konkretisiert.
Gesundheitsversorgung in Zeiten der Krise
Dann kam die Weltfinanzkrise und das Bankenzentrum London wurde besonders hart getroffen. Die Regierung musste so gut wie alle Banken verstaatlichen. Budgetdefizit und Staatsverschuldung erreichten über Nacht dramatische Höhen. Die Arbeitslosigkeit stieg rasant, die Steuereinnahmen sanken. Trotzdem waren sich noch bei der Unterhauswahl im Frühjahr 2010 alle einig, dass die Krise nicht zu Lasten der NHS gehen dürfe und nun erst recht die nötigen Reformschritte in Angriff genommen werden müssen.
Wie sich die Situation seither entwickelt hat, lesen Sie nächstes Mal in der behindertenarbeit.at-Reportage „Gesundheits- und Sozialsysteme: Kaputtsparen oder Gesundbeten?“.
AutorIn: Redaktion
Zuletzt aktualisiert am: 09.01.2017
Artikel-Kategorie(n): Behindertenpolitik, News
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