Reportage: Gesundheits- und Sozialsysteme: Kaputtsparen oder Gesundbeten?
Privatisieren und Einsparen – das ist die Devise der Gesundheitspolitik in ganz Europa. In Großbritannien, dem westlichen Land Europas mit dem schwächsten Gesundheitssystem, tragen die Reformvorhaben bizarre Blüten. Manchen bleibt nur noch die Hoffnung auf Hilfe von oben und verlegen sich aufs Gesundbeten. behindertenarbeit.at berichtet aus Oxford, Großbritannien.
Die Gesundheitssysteme in Europa stehen allesamt vor dem gleichen Dilemma: Die Einnahmen stagnieren angesichts rückläufiger Einkommensentwicklung der BeitragszahlerInnen, während die Ausgaben der Hochleistungsmedizin für eine immer älter werdende Bevölkerung dramatisch ansteigen. In welche Richtung diese Entwicklung führt, zeigt das staatliche Gesundheitssystem Großbritanniens, das National Health System, kurz NHS.
Das NHS ist seit Jahren unterfinanziert. Horrornachrichten von katastrophaler medizinischer Versorgung und haarsträubenden Pflegemängeln an immer mehr der öffentlichen Krankenhäuser machen die Runde. Von 1997 bis 2010 betrieben die Labour Regierungen von Tony Blair und dessen Nachfolger Gordon Brown eine „Loch-Auf-Loch-Zu“-Politik: Tat sich an einem Ende des Systems eine unübersehbare Lücke auf, wurde sie mittels Finanzspritze kurzfristig gestopft. Das Geld fehlte dann freilich andernorts, wo sich die nächste Nahtstelle öffnete. Diese wurde dann wieder durch Umschichtungen gekittet bis sich ein weiteres Loch in die poröse Hülle fraß. Dass die Bevölkerung Labour nicht mehr zutraute, das NHS nachhaltig zu reformieren, war einer der Gründe für die spektakuläre Abwahl im Herbst 2010.
Leere Kassen, schlechte Ärzte
Die Nachfolgeregierung von David Cameron und Nick Clegg erbte freilich nicht bloß ein marodes Gesundheitssystem, sondern infolge der Wirtschaftskrise leere Staatskassen. Im Gegensatz zur großen Koalition in Österreich hat die konservativ-liberale britische Regierung keine Scheu vor Steuererhöhungen. Doch damit ist das Budgetdesaster nicht in den Griff zu bekommen. Massive Einschnitte im Sozialsystem wurden notwendig und davon bleibt auch das NHS nicht verschont.
Die erste Maßnahme lautet Privatisierung. Dabei geht es nicht um den Wettbewerb privater Krankenversicherungen, wie dies etwa in Deutschland seit einiger Zeit praktiziert wird. Das NHS ist genau genommen nämlich gar keine Krankenversicherung. Vielmehr wird das System über Steuermittel finanziert und jeder, der sich in Großbritannien aufhält, hat Anspruch auf kostenlose Versorgung. Darüber hinaus verfügen ohnedies die meisten Angehörigen der Mittelschicht über eine private Zusatzversicherung, um im Bedarfsfall möglichst wenig von den übel beleumdeten NHS-Anstalten abhängig zu sein. Privatisierung meint in diesem Zusammenhang die Auslagerung von Leistungen der NHS-Krankenhäuser an private Gemeinschaftspraxen, die sogenannten GPs.

Demonstration gegen die Privatisierung von Leistungen des staatlichen Gesundheitssystems NHS in Oxford, UK (Foto: behindertenarbeit.at)
Der GP, der General Practitioner, ist schon jetzt die erste Anlaufstelle für medizinische Fragen aller Art. Bevor man eine/n Facharzt/ärztin aufsuchen kann, muss man sich etwa von einem GP überweisen lassen. Dies gilt zum Teil sogar für privat ordinierende FachärztInnen. Der Haken bei der Sache: Die GPs haben, ähnlich den Apotheken in Österreich, bestimmte Raions zu betreuen, in die Konkurrenten nur sehr beschränkt Einlass erhalten. Das heißt, es besteht ein Oligopol, die Wahlmöglichkeiten der PatientInnen sind massiv eingeschränkt. Hinzu kommt, dass die Qualität der GP-Praxen stark schwankt: Ausgezeichnete Versorgung mancherorts stehen in vielen Gegenden Zustände gegenüber, die einer westlichen Industrienation Schimpf und Schande bereiten: Schlecht ausgebildete Ärtzinnen und Ärzte aus den ehemaligen britischen Kronkolonien, häufig nur sehr beschränkt der englischen Sprache mächtig, arbeiten lustlos Tag für Tag überfüllten Wartezimmer ab. Die einzige Alternative ist da die Spitalsambulanz der NHS-Krankenhäuser. Doch gerade hier möchte das Kabinett Cameron nun sparen und die PatientInnen zurück an ihre GPs verweisen.
Christliche Nächstenliebe statt staatlicher Sozialleistungen
Als weiteres Sparziel haben die Briten die Behinderten- und Altenbetreuung des NHS ausgemacht. Vor allem die kostenintensive Versorgung zu Hause hat es den Sparmeistern der Regierung angetan: Essen auf Rädern, mobiles Krankenpflegepersonal, persönliche Assistenz – all dies steht zur Disposition. Die Lösung hört sich für Bürger kontinentaleuropäischer Sozialstaaten wie ein sozialromantischer Witz an: David Cameron möchte eine „Big Society“, eine große Gesellschaft in der jeder jedem spontan hilft, wenn Unterstützung gebraucht wird. Seine Vor-Vorgängerin als konservative Regierungschefin, Margaret Thatcher, hatte einst noch infrage gestellt, ob es überhaupt so etwas wie eine Gesellschaft gäbe. Da seien Familien, Individuen, vielleicht noch Vereine und Verbände, aber eine Gesellschaft, der alle gleichberechtig angehörten, dies war der Wegbereiterin des europäischen Neoliberalismus suspekt. Derart markige Ansagen sind in Zeiten steigender Abstiegsängste in der Mittelschicht nicht mehr gefragt. David Cameron widersprach der Grande Dame der britischen Konservativen recht frech: Doch, es gäbe eine Gesellschaft, wir bräuchten sogar mehr Vertrauen in die Gesellschaft, allerdings – und das ist wohl der der springende Punkt– sei die Gesellschaft nicht mit dem Staat zu verwechseln. Im Klartext: Die Bürger und die Bürgerin sollen einander helfen, jedoch dabei nicht auf den Staat hoffen. Die Konsequenz: Nicht mehr das staatliche NHS soll Unterstützungsmaßnahmen leisten, sondern die Bürgerinnen und Bürger in mildtätiger Nächstenliebe. Statt der Fachkraft der öffentlichen Einrichtung soll eine Nachbarin, eine Verwandte oder ein Mitglied der Kirchengemeinde ehrenamtlich die Pflege und Betreuung der alten, kranken und behinderten Menschen übernehmen. Was sich wie Zustände aus dem 19. Jahrhundert anhört, könnte nach Plänen der britischen Regierung schon bald Wirklichkeit werden. Behindertenorganisationen sind seither in heller Aufruhr und werden nicht müde, landauf landab gegen diese Reformen zu protestieren.
Mit übersinnlichen Kräften gegen die soziale Sinnkrise
KritikerInnen sprechen von einem gezielten Kaputtsparen der öffentlichen Sozialsysteme, nicht zuletzt um private Charities der Kirchen und Wohlfahrtsorganisationen der oberen Mittelschicht zu stärken, die beide bekanntlich den Konservativen nahe stehen.

„Heilende Gebete“ frommer Briten im Getümmel der Einkaufsstraße Cornmarket Street, Oxford (Foto: behindertenarbeit.at)
Ein bizarres Bild ergab sich dabei jüngst in der englischen Universitätsstadt Oxford: In der gleichen Einkaufsstraße warben an einem Samstag Nachmittag Behindertenorganisationen um Unterstützung, während eine enthusiastische Christenemeinde kranken Mitbürgern ein „gemeinschaftliches Gebet um Heilung und Wiederherstellung“ anboten. Manche mochten sich fragen, ob dies die die beiden Lösungsansätze für das britische Gesundheitssystem sind: Kaputtsparen und Gesundbeten.
Quelle: behindertenarbeit.at aus Oxford
AutorIn: Redaktion
Zuletzt aktualisiert am: 16.06.2017
Artikel-Kategorie(n): Behindertenpolitik, News
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