Menschen mit Behinderung haben ein Recht darauf, Eltern zu werden. Über den Spannungsbogen zwischen diesem Recht auf Elternschaft und dem Schutz des Kindeswohles sprachen ExpertInnen am 30.09.2021 bei der Fachtagung „Mein Leben – Mit Kind. Elternsein mit Behinderung“
Jeder Mensch hat ein Recht auf Familie, auch Mütter und Väter mit Lernbehinderung, davon ist auszugehen, wenn die Menschenrechte und insb. die UN-Behindertenrechtskonvention umgesetzt werden sollen. Um auch Menschen mit Lernschwierigkeiten Familienglück zu ermöglichen, benötigt es einer optimalen Begleitung und Rahmenbedingungen, um das Spannungsfeld zwischen Recht auf Familie seitens der Eltern und dem Kindeswohl optimal abzudecken und zu behandeln.
Umdenken in Gang gesetzt
Während vor wenigen Jahren Kinder von Eltern mit Behinderung im Regelfall bei Pflegeeltern untergebracht wurden, ist mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention in Österreich ein Umdenken in Gang gesetzt worden. „Ziel soll nunmehr sein, diesen Personen eine Elternschaft zu ermöglichen eben mit dem Ziel, sowohl das Recht auf Familie und als auch das Wohl des Kindes bestmöglich zu schützen und zu wahren.“, sagt Walerich Berger, Geschäftsführer von Jugend am Werk Steiermark. „Die Behindertenhilfe und die Jugendhilfe sind daher mehr denn je gefordert, den Rahmen zu schaffen, innerhalb dessen ein geschütztes Aufwachsen eines Kindes bei Eltern mit Behinderungen möglich ist.“
Familie als grundlegendes Menschenrecht
Der Referent Univ.-Prof. Stephan Sting beispielsweise, der sich mit der Bedeutung von Familie für das Aufwachsen in unserer Gesellschaft beschäftigt, sieht die Aufrechterhaltung und Pflege der Familie als grundlegendes Menschenrecht, das in einer inklusiven Perspektive für alle Menschen gilt und in der Kinder- und Jugendhilfe sowie in der Behindertenhilfe Berücksichtigung finden muss.
„Wer Unterstützungsbedarf formuliere, setzt sich dem Vorwurf aus, überfordert zu sein“
Doch die Fähigkeit zur Elternschaft werde Menschen mit Lernbehinderung noch immer abgesprochen, sagt Christine Steger, Vorsitzende des Monitoringausschusses. In der Praxis leben diese Eltern in ständiger Angst, kleinste Fehler könnten zur Kindesabnahme führen. Betroffene erleben das oft als Willkür, ohne genaue Gründe zu erfahren. Durch diese Angst trauen sich viele nicht, um Unterstützung bei der Kinder- und Jugendhilfe zu fragen, weiß Steger. Denn wer Unterstützungsbedarf formuliere, setze sich automatisch dem Vorwurf aus, überfordert zu sein. „Will Österreich die Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen erst nehmen, muss man sich zwingend dem Thema der Kindesabnahme annehmen. Dazu müssen wir unbedingt ein funktionierendes System der Persönlichen Assistenz für die Elternschaft mit Rechtsanspruch schaffen und Hilfestellung, wo es nur geht, leisten“, sagt Christine Steger.
Unterstützungsangebote können helfen, sind aber oft mangelhaft
Über die Gratwanderung zwischen Selbstbestimmungsrecht der Eltern und dem Wohl des Kindes weiß Ingrid Krammer, Leiterin des Amtes für Jugend und Familie der Stadt Graz, bestens Bescheid und gab bei der Fachtagung beispielhaft Einblick in die Prozesse der Entscheidungsfindung – stets im Hinblick auf das Kindeswohl, unabhängig, in welcher Art und Weise die Eltern ihrem Erziehungsauftrag nicht nachkommen können -, und berichtete über die bestehenden Unterstützungsangebote.
Rahel More vom Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung an der Universität Klagenfurt hat für ihre Dissertation mit Müttern und Vätern mit Lernbehinderung gesprochen. Sie hinterfragte in ihrer Arbeit die Fremdzuschreibungen und -wahrnehmungen sowie das Selbstverständnis dieser Personen. Die Ergebnisse sollen Handlungsempfehlungen für den künftigen Umgang mit diesem Thema bringen.
Linda Schüchner vom Verein GIN und Vorstandsmitglied beim Verein NINLIL verglich die Entwicklung des Themas auf nationaler Ebene und im internationalen Vergleich, zeigte positive wie problematische Aspekte der Rahmenbedingungen auf und stellte die Unterstützungssysteme in Österreich auf den Prüfstand.
Walter Perl, Projektleiter bei Jugend am Werk, sieht in der Tagung den wichtigsten Aspekt des Themas, nämlich das Spannungsfeld zwischen Recht auf Familie und dem Kindeswohl dargelegt, um weiter an der Verbesserung der Situation für Eltern mit Lernbehinderung zu arbeiten. „Es hat sich einmal mehr gezeigt, dass es gerade bei diesem Thema den Sozialraum braucht, um solchen Kindern ein gutes Aufwachsen zu ermöglichen. Und dass es gerade hier eine umfassende Unterstützung des Staates und seiner Einrichtungen braucht.“
AutorIn: Redaktion
Zuletzt aktualisiert am: 04.10.2021
Artikel-Kategorie(n): Menschen mit Lernschwierigkeiten, News
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