„Mutter muss „Strafe zahlen“, wenn sie Sohn übers Wochenende aus Behinderten-Einrichtung holt“ – der Fall aus Niederösterreich sorgte medial für Aufmerksamkeit. Behindertenarbeit hat nachgefragt und erfahren, dass dies bei Weitem kein Einzelfall ist.
Volksanwalt Bernhard Achitz vertritt Christine A., deren Sohn Gerhard A. in einer Tageswerkstätte für Menschen mit Behinderungen arbeitet. Unter der Woche wohnt er im zugehörigen Wohnheim in Niederösterreich. Die Wochenenden verbringt er lieber zuhause – was für seine Mutter nun sehr teuer wird.
In der Richtlinie des Landes Niederösterreich sind nämlich jährlich maximal 82 Abwesenheitstage in einem vollbetreuten Wohnheim zugelassen, ansonsten wird die Förderung für den Heimbetreiber gekürzt. Dieser kann die entstandenen Kosten dem Verursacher verrechnen. Im Fall von Christine A. wären das EUR 120,- pro „nicht erlaubtem“ Abwesenheitstag. Ähnliches gilt für Werkstätten, wo maximal 50 Abwesenheitstage vorgesehen sind.
Der Fall aus Niederösterreich wurde durch einen Bericht der ORF-Sendung „Bürgeranwalt“ bekannt und zeigt einmal mehr die strukturellen Probleme in Österreich Behindertenpolitik auf. Volksanwalt Bernhard Achitz pocht auf die Einhaltung der UN-Behindertenrechtskonvention, in der das Recht auf Selbstbestimmung klar verankert ist.
„Kein Einzelfall“ – jährlich hunderttausende Euro Rückzahlungen an das Land NÖ
Der Fall sorgt insofern für Aufmerksamkeit, da das Geld direkt von einer Mutter eingefordert wurde. In der Regel übernehmen größere Organisationen die Kosten für die Abwesenheitstage ihrer Kund:innen, daher ist das Problem in der Öffentlichkeit wenig präsent. „Die Lebenshilfe NÖ zahlt aus solchen Gründen jährlich zwischen 600.000 und 800.000 Euro an das Land zurück“, so Friederike Pospischil, die Vereinspräsidentin der Lebenshilfe NÖ gegenüber Behindertenarbeit.at. Bereits 2019 wurde u.a. zu diesem Thema eine Petition mit fast 600.000 Unterschriften überreicht. „Das Land Niederösterreich will jedoch keinen Millimeter von der aktuellen Regelung abweichen“, so Pospischil, die regelmäßig mit den NÖ-Landesräten in Kontakt ist.
Länder entscheiden über Verrechnung der Abwesenheitstage
In der Praxis zeigt sich, dass Abwesenheitstage nicht in allen Bundesländern gleichermaßen verrechnet werden. Grundsätzlich zahlen die Länder die Fördergelder an die Organisationen im Voraus. Letztere sind verpflichtet, die Abwesenheitstage nachträglich zu melden. Ob überschüssige Förderungen zurückgefordert werden oder nicht, steht den Ländern offen und wird entsprechend unterschiedlich gehandhabt.
„Die Anzahl der Abwesenheitstage in Werkstätten und Wohnheimen ist in allen Ländern zwar ähnlich geregelt, doch nicht überall wird ein Überschreiten exekutiert. Es kommt darauf an, wie wichtig das Land die UN-Behindertenrechtskonvention und die Selbstbestimmung der Menschen nimmt“, so Vereinspräsidentin Pospischil.
Unterschiedliche Fördersysteme sorgen für unterschiedliche Kosten
Auch die Höhe der Förderung für Werkstätten und Wohnheime ist je nach Land sehr unterschiedlich geregelt. Der hohe Tagsatz von EUR 120,- ist in Niederösterreich einzigartig. In Wien beispielsweise würde die Überschreitung aufgrund eines anderen Fördersystems bei etwas weniger als EUR 50,- pro Tag liegen.
Gerhard A. bekommt wie all seine Kolleg:innen in den Werkstätten nur ein geringes Taschengeld. Damit gilt der 23-Jährige als „nicht selbsterhalterungsfähig“, weshalb seine Mutter für seinen Unterhalt – und damit auch für die Kosten seiner Abwesenheitstage – aufkommen muss.
Forderung nach Lohn statt Taschengeld in Tageswerkstätten
Ohne Lohn fehlt nicht nur Selbständigkeit, sondern auch jede Sozialversicherungs-Absicherung und die Möglichkeit auf eine Pension. Dies ist weder wertschätzend, noch entspricht das einer akzeptablen Abgeltung für die geleistete Arbeit. Der aktuelle Fall macht auch diese Schieflage einmal mehr deutlich.
Studie des Sozialministeriums bis April 2023 verlängert
Geforderte wird seit Jahren ein verpflichteter Mindestlohn sowie sozialversicherungsrechtliche Absicherung für Arbeitende in Tageswerkstätten. 2020 wurde die Forderung vom Nationalrat einstimmig mittels Entschließungsantrag eingebracht.
„Aufgrund der Komplexität des Themas“ gab Sozialminister Johannes Rauch dazu eine Studie am NPO Kompetenzzentrum der WU Wien (Wirtschaftsuniversität Wien) in Auftrag, deren Fertigstellung für 2022 angekündigt war.
Auf Nachfrage hat Behindertenarbeit.at erfahren, dass die Studie aufgrund der detaillierten Datenerhebung bis Anfang April 2023 verlängert wurde. Insgesamt wurden Daten von ca. 27.000 Personen ausgewertet, welche in Tagesstrukturen tätig sind. Die Ergebnisse sind zeitnah nach Abschluss der Studie im April zu erwarten. Das NPO Kompetenzzentrum wird diese jedenfalls im Rahmen einer Veranstaltung präsentieren und zur Diskussion stellen.
Quellen:
Volksanwaltschaft via OTS | 13.02.2023
Mutter muss „Strafe“ zahlen, wenn sie Sohn übers Wochenende aus Behinderten-Einrichtung holt
https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20230212_OTS0005
ORF Bürgeranwalt vom 11.02.2023
Beitrag „Abwesend im Wohnheim – Warum Angehörige zahlen?“
Studie „Lohn statt Taschengeld“ der WU Wien
https://www.wu.ac.at/npocompetence/projekte/laufendeforsch/lohn-statt-taschengeld/
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AutorIn: Redaktion
Zuletzt aktualisiert am: 19.03.2023
Artikel-Kategorie(n): Menschen mit Lernschwierigkeiten, News
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