Am Freitag, 9. Oktober wurde in Linz, im Rahmen eines der traditionsreichsten und bedeutendsten Foren der Behindertenarbeit in Österreich, das aktuelle Thema Nummer 1 neben Teilhabe und Inklusion betrachtet – die Sozialraumorientierung, die sowohl im Kontext der Behinderten- sowie Seniorenarbeit – nach zukunftsträchtigen Lebenskonzepten sucht.
GALLNEUKIRCHEN/LINZ. Mehr als 900 BesucherInnen waren am Freitag ins Brucknerhaus in Linz gekommen, in Erwartung eines alljährlich anspruchsvollen wie praxisnahen Themas in der Reihe der Martinstift-Symposien. Das gewählte Thema „Sozialraum – Orientierung oder Hype?“ versprach beides, sowie Aktualität und vielfältige Betrachtung.
„Das Diakoniewerk hat vor 30 Jahren seine festgefahrene Gewohnheit, nur am Kerngelände in Gallneukirchen Wohnen für Menschen mit Behinderung anzubieten, durchbrochen und ein erstes regionales Wohnangebot geschaffen. Darauf folgten viele weitere Schritte der Regionalisierung, De-Institutionalisierung und Dezentralisierung, parallel dazu sind inhaltliche Schritte zu Selbstbestimmung und Teilhabe gesetzt worden. Mit dem eingeleiteten Prozess der Inklusion und den Voraussetzungen für die Verwirklichung inklusiven Lebens beginnen sich unsere Bilder und Vorstellungen von Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit zu entwickeln, punktuell haben sie auch schon konkrete Form angenommen“, bemerkt Mag. Christa Schrauf, Rektorin des Diakoniewerks in ihren Eröffnungsworten.
Sozialraumorientierung ist ein vieldiskutierter Begriff geworden. Oft wird der Begriff rein räumlich verstanden, steht im Wort selbst doch „der Raum“ an sich im Zentrum. Kern des Begriffs ist jedoch nicht nur der Raum, der uns umgibt, sondern das, was sich darin abspielt – das Beziehungsgeflecht, die Ressourcen – und ist letztendlich immer bezogen auf die Menschen, die diesen Raum prägen.
Dr. Wolfgang Hinte ging in seinem Einstiegsreferat genau auf diesen Aspekt ein, nämlich das Verstehen von „Sozialraumorientierung“ nicht im räumlichen Kontext sondern als inhaltliches Konzept für Soziale Arbeit, das über viele Jahre hinweg, in der Tradition der Gemeinwesenarbeit, insbesondere in der Jugendhilfe entwickelt wurde und seit einigen Jahren im Rahmen der Inklusionsdebatte in der Behindertenhilfe enorme Aufmerksamkeit erfährt.
Hinte betont, dass es grundsätzlich in der Sozialen Arbeit nicht darum geht, Menschen zu verändern, sondern Arrangements zu schaffen und Verhältnisse zu gestalten, in denen sich Menschen nach ihrem eigenen Lebensentwurf entwickeln können. Der Fokus ist also immer die Umwelt, das Feld, in dem sich die jeweiligen Akteure bewegen. Und so basiert laut Hinte die Sozialraumorientierung auf fünf Prinzipien. Es geht nicht um die Arbeit „am“ Quartier, sondern um den klaren Willen der leistungsberechtigten Menschen. „Die Frage ist also immer wieder, ob wir ernst nehmen, was die Menschen wollen, oder ob wir schon zu wissen glauben, was gut für sie ist“, so Hinte. Darauf aufbauend braucht es ein sog. „provokante Aktivierungskultur“, die Menschen veranlasst, ihre Ziele ein Stück weit selbst in die Hand zu nehmen. „Wir brauchen Profis, die so viel Hilfe wie nötig und so wenig Hilfe wie möglich einbringen“, fordert Hinte. Und dies geht nur, wenn wir auch die Ressourcen in Betracht ziehen – des einzelnen Menschen, wie auch jene im Quartier selbst. Sehr großes Potential haben dabei, die fern von der professionellen Arbeit existierenden lebensweltlichen Ressourcen, also jene des Sozialraums. Ein wichtiges und damit viertes Prinzip ist die Notwendigkeit im zielgruppenübergreifenden Kontext zu arbeiten – eine Fähigkeit, die die Fachkräfte laut Hinte neu erlernen müssen. Mit dem fünften Prinzip, nämlich dem Aufbau sog. kooperativer Landschaften, dh. der Vernetzung und Abstimmung der zahlreichen sozialen Dienste, soll es gelingen wirklich funktionierende Einzelhilfen für leistungsberechtigte Menschen zu etablieren. Budgets für Sozialräume sind damit die logische Konsequenz. Zu stark konkurrierende Träger, das Denken in Organisationsstrukturen und Finanzierungssträngen hemmen heute die Soziale Arbeit und deren Weiterentwicklung.
Heinz Becker, Leiter der Arbeiter-Samariter-Bund Tagesförderungsstätte in Bremen, postuliert in seinem Referat, dass es die Orientierung am Sozialraum braucht, um Arbeit für Menschen mit schwersten Behinderungen und hohem Unterstützungsbedarf zu organisieren. Inklusion geht nur inklusive Arbeit. Inklusion oder Teilhabe kann von ihrem Wesen her nur außerhalb von Sondereinrichtungen im Gemeinwesen stattfinden. „Der Weg von der „Inszenierung“ von Arbeit in Tagesstätten hin zur Inklusiven Arbeit muss über den Sozialraum führen. Wir müssen also soziale Prozesse initiieren mit Menschen, die „die Nächsten“ werden könnten, die uns helfen, die mit uns kommunizieren. Das müssen wir für und mit jedem einzelnen Menschen mit schwersten Behinderungen gestalten“, ist Heinz Becker überzeugt. Oft sind die Möglichkeiten der Selbstbestimmung stark begrenzt und so muss auch stellvertretend entschieden werden – wichtig ist jedoch dies reflektiert zu tun, mit dem Bemühen, den Willen der Menschen zu ergründen.
Und so hat der die ASB Tagesförderungsstätte in Bremen bereits begonnen, sich im Sozialraum einzubringen und arbeitet nun in einer Gärtnerei mit, verteilt Gemeindebriefe, geht in einen Fahrradcenter uvm. „Wenn wir nur auf den großen gesamtgesellschaftlichen Entwurf warten nach dem Motto – wenn die Inklusion fertig ist, dann machen wir auch mit – wird es nicht gelingen“, ist sich Heinz Becker sicher.
Armin Oertel aus Hamburg führte in seinem Referat in die Hintergründe für den Aufbau der sozialraumorientierten Arbeit der Evangelischen Stiftung Alsterdorf ein.
„Quartiere bewegen“: Mit diesem Motto arbeitet das Quartiers-Projekt Q8 seit Anfang 2011 an Antworten auf drängende gesellschaftliche Fragen: Was ist zu tun, damit Menschen mit Pflege- und Assistenzbedarf gut und sicher in ihrem Quartier leben und sich versorgen können? Welche Strukturen können helfen, die vorhandenen Ressourcen besser zu nutzen? Welche Rahmenbedingungen sind erforderlich, um gesellschaftliche Inklusion nachhaltig zu sichern? Wie kann das Quartier als Handlungs- und Steuerungsebene genutzt werden?
Die heutigen, bekannten zugleich herausfordernden Rahmenbedingungen verlangen danach, „das Soziale“ neu zu organisieren. Denn die im Privaten geleistete Pflege- und Sorgearbeit stößt an ihre Grenzen und ist dabei im Wesentlichen noch immer Aufgabe von Frauen. Außerdem formulieren immer mehr Menschen ihren Anspruch an selbstbestimmtes Leben bis ins hohe Alter.
Armin Oertel betont: „Das Projekt Q8 verfolgt das Ziel, in den Quartieren die Möglichkeiten für ein inklusives Zusammenleben zu verbessern durch die Schaffung von sicheren (Selbst)-Versorgungsstrukturen und guten Lebensbedingungen.“ Mit sog. „Intermediären für das Soziale“, die sich im Quartiersleben einbringen mit dem Ziel die Wohnbevölkerung zu aktivieren, der Schaffung von sog. Umschlagplätzen wie Mittagstischen und Infozentren, bis hin zu einem sich Einbringen in der Wohnraumentwicklung und Stadtplanung und der Etablierung neuer Unterstützungsstrukturen im Quartier wird eine neue Form des inklusiven Zusammenlebens ausgelöst. „Was es braucht sind Zeit, Mut und Geduld. Wir müssen in Zukunft das Zielgruppendenken überwinden und in die Sozialräume hineingehen. Dort sind die Menschen zentrale Figuren mit ihren Bedürfnissen und ebenso wichtigen Ressourcen“, schließt Oertel ab.
Seit 2011 arbeitet Q8 in mehreren Quartieren in Hamburg und Schleswig-Holstein.
In Oberneukirchen im oberösterreichischen Mühlviertel sind Gemeinde und Diakoniewerk von Anfang an gemeinsame Wege gegangen. „MIT-Einander einen Lebensraum gestalten“ war schon immer das Motto vorort. Dr.in Waltraud Paar, zuständige Bereichsleitung im Diakoniewerk, und lokale NetzwerkerInnen berichteten von ihren Fußspuren in der gemeinsamen kommunalen Entwicklung. Ein Naturladen gemeinsam mit der Ortsbauernschaft und ein Kaffeehausbetrieb im Kulturhaus Schnopfhagen wie auch andere Projekte machen deutlich, dass Sozialraumarbeit sehr viel mit dem Aufbau und der Aufrechterhaltung von gelebten Beziehungen zu tun hat, die sich gegenseitig Mehrwert stiften. In Oberneukirchen gibt es seit Jahren eine Werkstätte für Menschen mit Behinderung, doch darüber hinaus gibt es am Sozialraum orientierte Angebote, die ein Inklusives Miteinander erst so richtig möglich gemacht haben.
Ganz authentisch und wie im Alltag gelebt, wurde auf der Bühne im Brucknerhaus das gelungene Miteinander in Oberneukirchen gemeinsam präsentiert.
Mit Rudolf Blüml wurde die Sozialraumarbeit der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel dargestellt. Der Aufbau von Angeboten in den verschiedenen Stadteilen Bielefelds am Beispiel des Sozialraumes Bielefeld Senne / Windelsbleiche zeigte sehr anschaulich deren Erfahrungen und Bemühungen. sowie die Bedeutung der Vernetzung und Begegnung.
Die Notwendigkeit des Umdenkens in der Behindertenarbeit, weg von definierten „Schubladen“ hin zu Sozialräumen wurde in der Podiumsdiskussion der ReferentInnen einhellig bejaht. Mag. Renate Hackl, vom Amt der OÖ Landesregierung, Abteilung Soziales/Leistungen für Menschen mit Behinderung, stellte für sich klar, dass die Rolle des Landes nicht rein in jener des Kostenträgers liegen darf sondern vorallem auch in jener des Gestalters. „Wenn wir an Sozialraumorientierung denken, losgelöst von klassischen Angebotsstrukturen, dann stellt sich auch die Frage: Wie gelingt es uns, die finanziellen Ressourcen dort hinzubekommen, wo wir sie auch wirklich in Zukunft brauchen? Wie können wir sicherstellen, dass wir die Menschen erreichen, mit dem was sie wollen?“
Am Ende des Tages nahm der „Hype Sozialraumorientierung“ immer mehr Form und Gestalt an – das Symposion-Ziel war damit erreicht und das Diakoniewerk geht in die Planung des 44. Symposion-Jahrganges.
Das Martinstift-Symposion zählt als solches zu den traditionsreichsten und bedeutendsten Foren in Österreich und ist Treffpunkt für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der österreichischen Behindertenarbeit. Durch die Mitwirkung international bekannter ReferentInnen behält das Symposion seine Attraktivität. Zudem bietet es die Gelegenheit, Entwicklungen in der Hilfe für Menschen mit Behinderung in einem fachlichen Kontext zu präsentieren und zu diskutieren.
Quelle: Diakoniewerk
AutorIn: Diakoniewerk
Zuletzt aktualisiert am: 18.06.2017
Artikel-Kategorie(n): News, Soziale Arbeit und Begleitung
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