Vor zwei Wochen erreichte die behindertenarbeit.at-Redaktion eine Email von zwei Wiener Müttern behinderter junger erwachsener Töchter. Beide stehen sie wie viele andere Eltern behinderter Erwachsener vor dem Problem, eine Bewilligung eines Wohnplatzes in Händen zu halten, die offenbar nicht viel mehr wert ist als das Papier, auf dem sie geschrieben steht, da nicht ausreichend Wohnangebote zur Verfügung stehen.
Eltern warten oft jahrelang auf einen Betreuungsplatz für ihre behinderten jugendlichen Töchter und Söhne. Es gibt Gerüchte, dass die Stadt Wien einen völligen Stopp beim Ausbau von Wohn- und Tagesstruktur-Angeboten verhängt hätte. Auch die Bedarfsplanung scheint angesichts der vorliegenden Tatsachen völlig versagt zu haben.
Kaum Aufstockung des Angebots
Auf Nachfrage bei Stadträtin Wehsely erhielten wir vom Fonds Soziales Wien die Auskunft, dass im Bereich Wohnen für Menschen mit Behinderung die Zahl der Plätze von ca. 2940 im Jahr 2012 auf ca. 2990 (Stand 2013) aufgestockt wurde. Das ergibt eine Steigerung von 1,7%! Diese minimale Aufstockung der Wohnplätze kann nicht dem tatsächlichen Bedarf entsprechen, wenn man bedenkt, dass durch die verbesserte medizinische Versorgung und allgemein durch die verbesserten Lebensbedingungen auch das Durchschnittsalter behinderter Menschen stetig ansteigt.
Seit 3 Jahren auf Wartelisten
Viele Eltern sehen sich von der Stadt Wien im Stich gelassen, da sie im Endeffekt diejenigen sind, die die Last dieser Fehlentwicklung und mangelnden Finanzierung zu tragen haben. Simone Ben-Soussia, mittlerweile 19 Jahre alt, benötigt basale Förderung und Pflege rund um die Uhr. Einen Tagesstrukturplatz hat sie bekommen, die restliche Zeit wird sie von ihrer Mutter Patricia Ben-Soussia betreut. „Vor drei Jahr haben wir die Wohnplatzbewilligung bekommen, seitdem haben wir bei etlichen Anbietern um einen Platz angefragt, aber nur Absagen erhalten bzw. sind auf die Warteliste gesetzt worden“, schildert Patricia Ben-Soussia ihre Situation, „Einmal haben wir sogar die Antwort bekommen, dass nichts frei wird, bis ein Klient stirbt.“
„Wir gehören einer berufstätigen modernen Frauengeneration an und möchten deshalb auch für unsere Kinder, dass sie ein ihren Möglichkeiten entsprechendes selbstbestimmtes und von uns unabhängiges Leben führen können. Dazu gehört für uns auch der Loslösungsprozess zwischen Eltern und jungen Erwachsenen in Form von getrenntem Wohnen“, erörtert Ariane Lindner, Mutter von Lena Lindner.
Zusammenleben – ein Wunschtraum für behinderte junge Menschen?
Lena Lindner, 18 Jahre alt, hat einen Freund (ebenfalls mit Behinderung) mit dem sie gerne zusammenleben möchte. „Es wurde uns als beinahe aussichtslos vermittelt, dass beide in der gleichen Wohngemeinschaft einen Platz finden“, zeigt sich Ariane Lindner verärgert. Was für andere junge Menschen ganz selbstverständlich ist, wird behinderten Menschen unmöglich gemacht.
Keine neuen Ideen für die neuen Herausforderungen einer modernen Behindertenhilfe
Es fehlen seitens der Stadt Wien aber nicht nur dringend benötigte Wohnplatzangebote, sondern auch kreative neue Projekte und Ideen zur Weiterentwicklung der Behindertenhilfe. Die Pflegegeldergänzungsleistung für Persönliche Assistenz (PGE) sei hier zwar erwähnt, doch sind die Kriterien für diese Leistung derart eng gesteckt, dass sie nur für Menschen mit Körperbehinderung, die voll geschäftsfähig sind, in Frage kommt. Daher ist ein Großteil der behinderten Menschen von vornherein ausgeschlossen. Dies schlägt sich auch in Zahlen nieder: Im Jahr 2013 haben lt. Auskunft des Fonds Soziales Wien 231 Personen PGE in Anspruch genommen (im Vergleich zu 2990 herkömmlichen Wohnplätzen). Für behinderte Menschen mit basalem Bedarf steht eine derartige Leistung wie die PGE gar nicht zur Verfügung, daher ist es auch nicht denkbar, sich z.B. in Eigenregie eine bedarfsgerechte Betreuung und Förderung zu organisieren.
Stadt Wien muss rasch handeln!
Auf Anraten hat sich Patricia Ben-Soussia vergangene Woche an das „Case Management“ des Fonds Soziales Wien gewandt und nur lapidar den Rat erhalten, sich noch bei weiteren Anbietern auf die Warteliste setzen zu lassen, „damit sich die Chancen erhöhen, dass sie [die Tochter] ev. etwas schneller einen Platz bekommt.“ Sieht so die Problemlösung einer modernen Behindertenhilfe aus? Oder ist es ein Kopf-in-den-Sand-stecken einer Behindertenpolitik, die keine innovativen Ideen hat und lieber in alten Denkmustern verharrt? Es liegt in der Verantwortung von Stadträtin Sonja Wehsely, hier rasch und mutig Entscheidungen zu treffen…
Anmerkung: Dieser Artikel wurde von der Redaktion behindertenarbeit.at unter Mitwirkung von Patricia Ben-Soussia und Ariane Lindner erstellt.
AutorIn: behindertenarbeit.at
Zuletzt aktualisiert am: 16.06.2017
Artikel-Kategorie(n): Gleichstellung und Antidiskriminierung, News
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