In Österreich gibt es eine Ausbildungspflicht bis 18. Diese gilt auch explizit für Jugendliche mit Behinderung. Dennoch endet deren Schullaufbahn meist direkt nach der Pflichtschulzeit. Daran ändert auch eine neue Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs wenig. Denn die Hürden zum 11. und 12. Schuljahr sind nicht nur auf rechtlicher Ebene präsent.
Anfang April ließ eine Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs (VfGh) aufhorchen: „Freiwilliges 11. und 12. Schuljahr darf vom Schulerhalter nur mit nachvollziehbarer Begründung abgelehnt werden“, heißt es darin. Der bloße Hinweis auf „Platzmangel“ genüge nun nicht mehr, um eine Ablehnung zu begründen. Unverändert bleibt: Das 11. und 12. Schuljahr ist für Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf nur mit Bewilligung der Bildungsdirektion und des Schulerhalters möglich. Betroffene Familien werden also weiterhin zu Bittstellern degradiert, Jugendliche mit Behinderung diskriminiert.
Entscheidung des VfGh hat für die Praxis „wenig Bedeutung“
Die Entscheidung des VfGh brachte dem Thema medial wichtige Aufmerksamkeit, für die Praxis soll sie jedoch kaum beutend sein. „In der Praxis hat das Urteil kaum eine Auswirkung“, so ein Experte im Gespräch mit Behindertenarbeit.at. Es ist zu begrüßen, dass sich die rechtliche Situation für Schüler:innen mit Behinderung – wenn auch in kleinen Schritten – verbessert, trotzdem sei es immer noch möglich, irgendeinen Grund für eine Ablehnung zu finden, sollte der Wille fehlen.
„Im aktuellen Schuljahr wurden alle Anträge auf ein 11. und 12. Schuljahr bewilligt“, weiß Natalia Postek vom Dachverband Wiener Sozialdienste. Das wird voraussichtlich so bleiben, Wien habe hier eine klare Zusage gemacht, in den Bundesländern gab es schon zuvor kaum Ablehnungen. Zu erwähnen ist außerdem, dass bisherige Ablehnungen nicht nur mit “Platzmangel”, sondern mit unterschiedlichen Argumenten begründet wurden, von denen einige nach wie vor zum Tragen kommen könnten.
11./12. Schuljahr bedeutet: Schulwechsel, keine Nachmittagsbetreuung
Die Bewilligung des Antrags ist jedoch nur die erste von vielen Herausforderungen, die ein 11. und 12. Schuljahr mit sich bringt. So können Schüler:innen mit Behinderung den Schulbesuch nicht einfach in ihren Klassen fortsetzen, sondern müssen in der Regel die Schule wechseln. „In Wien gab es bisher nur zwei Schulstandorte, an denen das 11. und 12. Schuljahr absolviert werden konnte. Im aktuellen Schuljahr wurden zwei weitere Standorte eröffnet“, so Postek. Die Umstellung auf eine neue Klassensituation ist gerade für Schüler:innen mit Beeinträchtigungen oft sehr herausfordernd, die meist langen Anfahrtswege sind eine Zumutung.
Zudem gibt es an all diesen Standorten keine Nachmittagsbetreuung. Schüler:innen werden maximal von 8:00 Uhr bis 12:00 Uhr betreut, was für viele Familien schwer zu bewältigen ist. „Wir gehen davon aus, dass Eltern keinen Antrag stellen, sobald sie sehen, wie ein 11./12. Schuljahr in der Praxis abläuft“, so Postek über die derzeitige Situation.
Exklusive Ausbildungswege für Familien „viel einfacher umzusetzen“
Tatsächlich entscheiden sich viele Eltern nach der Pflichtschulzeit für andere Ausbildungswege ihrer Kinder. Hier bieten sich Programme wie AusbildungsFit oder Berufsausbildungsassistenz an. Trotzdem führen die Bildungswege von Jugendlichen mit Behinderung früher oder später immer noch in wenig inklusive Einrichtungen wie Tagesstrukturen, wenngleich diese nur in bedingtem Ausmaß im Sinne einer „Ausbildung bis 18” in Frage kommen.
„In der Praxis sind die separierenden Wege für Familien viel einfacher umzusetzen“, spricht Natalie Postek über Erfahrungswerte. Angebote wie Tagesstrukturen seien meist besser zugänglich und gut planbar und daher nach dem 18. Lebensjahr oft die erste Wahl. Wer sich im Gegensatz dazu für einen inklusiven Weg wie beispielsweise Arbeitsintegration entscheidet, ist nicht selten mit extra Aufwänden und ungeklärten Fragen konfrontiert.
Verlängerte Schulbildung „sollte auch in inklusiver Form möglich sein“
Welcher Bildungsweg für Jugendliche mit Behinderung die beste Wahl ist, kann laut Expert:innen schwer beantwortet werden. Es habe alles seine Vor- und Nachteile. „Ich sehe das 11. und 12. Schuljahr als wichtigen Knackpunkt“, zeigt sich Postek überzeugt. Es müsste allerdings familienfreundlicher und inklusiver werden. „Das 11. und 12. Schuljahr wird derzeit ausschließlich an Sonderschulen angeboten, Inklusion gibt es in dieser Form noch garnicht.“ Außerdem existiert nach wie vor kein Lehrplan für ein 11. und 12. Schuljahr.
Die Möglichkeit einer inklusiven Beschulung im 11. und 12. Schuljahr, beispielsweise an einer AHS oder BHS, wäre laut Natalie Postek in jedem Fall wünschenswert und ein wichtiger Schritt hin zu mehr Bildungsgerechtigkeit.
Quellen:
Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs | 04.04.2024
https://www.vfgh.gv.at/medien/Freiwilliges-Schuljahr.de.html.php
Ausbildung bis 18
www.ausbildungbis18.at
AutorIn: Alice Bauer
Zuletzt aktualisiert am: 28.04.2024
Artikel-Kategorie(n): News, Schulische Integration
Permalink: [Kurzlink]