Während bisher vor allem der Osten Österreichs mit hohen Beschränkungszahlen auffiel, rücken neue Auswertungen nun erstmals Bundesländer wie Kärnten und Steiermark in den Fokus. Behindertenarbeit.at hat mit Bernhard Rappert, Fachbereichsleiter der Patientenanwaltschaft, über Gründe und Hintergründe gesprochen.
Vergleicht man die Zahlen zu Unterbringungen in psychiatrischen Stationen in Österreich, zeigt sich seit einiger Zeit eine unterschiedliche Tendenz in den einzelnen Bundesländern. „Wir sehen bei der Beschränkungsquote große regionale Unterschiede: In Wien und im Burgenland wird etwa doppelt so viel beschränkt wie in den westlichen Bundesländern Tirol und Salzburg“, erklärt Bernhard Rappert, Fachbereichsleiter Patientenanwaltschaft bei VertretungsNetz.
Unter „Beschränkung“ werden freiheitseinschränkende Maßnahmen wie eine Fixierung mit Gurten am Bett oder verschlossene Krankenzimmer im Rahmen einer Unterbringung verstanden. Diese unterliegen einer Meldepflicht nach dem bundesweit geltenden Unterbringungsgesetz – die Dokumentation und Datenverarbeitung ist somit in allen Bundesländern gleich geregelt.
Kärnten mit höchsten Werten bei Gurtfixierungen pro Einwohnerzahl
Im Jahr 2023 wurden VertretungsNetz 25.254 Unterbringungen im Zuständigkeitsgebiet (Österreich ohne Vorarlberg) gemeldet, rund 34% dieser Personen waren von einer Beschränkung betroffen. Diese Daten entsprechen in etwa dem Niveau des Vorjahres.
Doch es gab auch neue Erkenntnisse: „Erstmals konnten wir 2023 detailliert auf Bundesland-Ebene auswerten, wie viele Patient:innen im Rahmen ihres Psychiatrieaufenthalts mit Gurten am Bett fixiert wurden“, so Rappert. Ein Vergleich dieser Daten ließ erkennen, dass in Kärnten bezogen auf die Einwohnerzahl mehr beschränkt wird als in allen übrigen Bundesländern. So kam es in Kärnten zu 103 und in der Steiermark zu 88 Gurtfixierungen pro 100.000 Einwohner:innen, während diese Werte in Niederösterreich (48) oder dem Burgendland (25) wesentlich niedriger ausfielen. Ein Ergebnis, das überrascht, zumal bezogen auf die Anzahl der zwangsweisen Aufnahmen bisher der Osten Österreichs mit vielen Beschränkungen ins Auge fiel.
Es muss betont werden, dass sich die genannten Zahlen rein auf die Häufigkeit beziehen. Wie lange eine Person mit Gurten fixiert wurde, lässt sich aus den bestehenden Daten bisher nicht auslesen, erklärt Bernhard Rappert.
Hohe Beschränkungszahlen nicht mit „offener“ Stationsführung erklärbar
Die Hintergründe für die länderspezifischen Unterschiede sind bis dato nicht geklärt. Eine viel diskutierte These bezog sich auf die Stationsführung, die im Osten Österreichs tendenziell offen, im Westen eher geschlossen praktiziert wird. Nachdem bisherige Beschränkungszahlen ein Ost-West-Gefälle aufzeigten, lag die Vermutung nahe, dass es in offen geführten Stationen, an denen Patient:innen mehr Bewegungsfreiheit zugestanden wird, eher zu Beschränkungen komme.
Angesichts der neuen Datenlage lässt sich das Argument jedoch schnell entkräften: In Kärnten, dem Land mit den meisten Beschränkungen bezogen auf die Einwohnerzahl, werden Stationen mehrfach geschlossen geführt. Eine Studie aus Deutschland kam sogar zu dem Ergebnis, dass in offen geführten Stationen weniger Gewalt und Suizidversuche verzeichnet werden als in offen geführten Stationen.
Personalmangel zu mehr Beschränkung von Freiheitsrechten führen
„Es gibt viele Gründe, warum es zu unterschiedlichen Zahlen kommt“, verweist Rappert auf die Komplexität der Thematik. Als einen wesentlichen Grund führt Rappert den Personalmangel an: „Wir wissen, dass Persönlichkeitsrechte tendenziell stärker eingeschränkt werden, wenn weniger Personen im Dienst sind.“
Die Zahl der Beschränkungen ist seit 2020 sprunghaft gestiegen. „Zuerst dachte wir, das liegt an der CoV-Pandemie, doch es zeigte sich, dass die Zahlen auch in den Folgejahren hoch bleiben. Die zweite Hypothese ist der Pflegenotstand“. Personalmangel hat jedenfalls nicht nur die Konsequenz, dass sich die medizinische Versorgung verschlechtert, sondern auch, dass Freiheitsrechte eher beschränkt werden, zeigt sich Rappert überzeugt.
Auch bauliche Gegebenheiten können einen Einfluss auf Beschränkungszahlen haben: „Menschen brauchen Bereiche, um sich zurückzuziehen. Enge, niedrige Räume führen nachweislich zu Gewalttendenzen“, so Rappert über bauliche Vorgaben, die nicht in allen psychiatrischen Stationen zufriedenstellend erfüllt werden. Nicht zuletzt ist die persönliche Haltung der Fachkräfte von Bedeutung, wenn es um Eingriffe in Freiheitsrechte geht. Hier spielen beispielsweise die berufliche Erfahrung, Ängstlichkeit und die Kompetenz der diensthabenden Personen mit.
„Psychische Erkrankungen können in jeder Familie vorkommen“
„Grundsätzlich sind alle Zahlen ohne Bewertung zu verstehen“, betont Bernhard Rappert im Gespräch mit Behindertenarbeit.at. Die Ergebnisse der Auswertung sollen vielmehr zur Diskussion anregen, sollen dazu führen, dass sich Abteilungen untereinander austauschen und überlegen, was man verändern könnte.
Doch nicht nur unter Fachkräften ist Austausch wichtig, auch in der Gesellschaft braucht es ein Umdenken: „Psychisch krank wird nach wie vor von vielen Menschen mit „gefährlich“ gleichgesetzt. Es ist so wichtig, dieses Stigma aufzubrechen. Es gibt kein Geschlecht, keine Altersgrenze oder Personengruppe – eine psychische Erkrankung kann wirklich jede Familie betreffen. Wenn dieses Bewusstsein da ist, wenn der Druck auf die Politik wächst, dann wird auch Geld in die Hand genommen“, so Bernhard Rappert abschließend.
Quellen:
VertretungsNetz via OTS | 15.04.2024
Neue Daten zu Unterbringungen in der Psychiatrie
https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20240415_OTS0012
Entwicklung der Unterbringungen. Daten und Zahlen der Patientenanwaltschaft.
https://vertretungsnetz.at/patientenanwaltschaft/aktuelle-themen/entwicklung-der-unterbringungszahlen/
AutorIn: Alice Bauer
Zuletzt aktualisiert am: 05.05.2024
Artikel-Kategorie(n): Gleichstellung und Antidiskriminierung, News
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