Kravanja: „Die Abkehr vom medizinischen Modell und Hinwendung zum sozialen Modell ist im aktuellen NAP (Nationaler Aktionsplan Behinderung) mit dem Ziel der legistischen Umsetzung im Jahr 2028 enthalten.“
Unterstützungsleistungen bzw. Möglichkeiten der Nutzung von Angeboten für Menschen mit Behinderungen werden in Österreich nach gewissen Kriterien vergeben. Diese beinhalten in den meisten Fällen eine oder mehrere Formen von medizinischer Begutachtung. Heutzutage wird das als „medizinisches Modell“ bekannte Konzept zur Auslegung des Begriffes Behinderung im Allgemeinen als veraltet und nicht mehr zeitgemäß betrachtet. Mitunter werden viele Formen von Behinderung darin nicht passend erfasst, und die Prozedur der Untersuchung wird von Betroffenen oftmals als entwürdigend beschrieben.
Dringender Systemwechsel nötig
So wird nun meist von einem „sozialen Modell“ ausgegangen. Dieses verschiebt den Fokus: Anstatt medizinische / körperliche Eigenschaften zur Evaluierung, ob Behinderungen vorliegen, heranzuziehen, werden gesellschaftliche Faktoren in den Vordergrund gerückt. Dabei werden systemische Barrieren identifiziert und daraus Lösungsvorschläge formuliert. Simpel gesagt bedeutet das, dass Menschen mit Behinderungen nicht beeinträchtigt sind, sondern erst durch ihre Umwelt beeinträchtigt werden. In diesem Sinn werden zum Beispiel gehörlose Menschen erst dann an der Teilhabe an der Gesellschaft behindert, wenn ihnen keine Gebärdensprachdolmetschung zur Verfügung steht.
Diese Untersuchung ist für viele Menschen mit Behinderungen ein wichtiger Schritt in Richtung autonomerem Leben, da die Nutzung vieler Unterstützungen, beispielsweise beim sogenannten „Grad der Behinderung“, davon abhängt.
Dass diese Untersuchung an einigen Stellen als entwürdigend beschrieben wird, scheint leicht nachvollziehbar zu sein – daher plädieren verschiedene Organisationen seit einiger Zeit für eine Abkehr vom medizinischen Modell in der Praxis. Nichtsdestotrotz sind medizinische Untersuchungen bei Evaluierungen, Gang und Gebe.
ÖZIV drängt zu Taten
Rudolf Kravanja, Präsident des ÖZIV Bundesverbands betont diesen Aspekt am 5. Mai anlässlich des europäischen Protest-Tages zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen: „Viele Betroffene empfinden diese Begutachtungen als entwürdigend und berichten über wenig vorhandenes Wissen zum Thema Behinderungen bei den Begutachter:innen.“ Sie führt weiter aus, dass die praktische Umsetzung des Wechsels im Nationalen Aktionsplan Behinderung, kurz NAP, enthalten ist. Darin ist eine legistische Realisierung im Jahr 2028 geplant.
Daher drängt der ÖZIV hinsichtlich der im NAP festgelegten Ziele zu ersten Schritten: „Der Systemwechsel stellt ein komplexes Unterfangen dar – deshalb muss rasch mit der Erarbeitung begonnen werden – damit künftig sichergestellt ist, dass sich Menschen mit Behinderungen nicht mehr diesen menschenunwürdigen Situationen ausliefern müssen!“
So fordert auch behindertenarbeit.at: Es muss gemeinsam, unter Einbindung aller Betroffenen ein zeitgemäßes System erarbeitet werden, welches Behinderung nach aktuellen Modellen versteht, um eine Inklusion im Sinne der Behindertenrechtskonvention in Österreich gewährleisten zu können.
Quelle
ÖZIV via OTS.at | 30.04.2024
ÖZIV: Medizinische Begutachtungen für Menschen mit Behinderungen oft „entwürdigend“
https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20240430_OTS0051/
AutorIn: Redaktion
Zuletzt aktualisiert am: 09.05.2024
Artikel-Kategorie(n): News, Selbstbestimmtes Leben
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