Ob Menschen mit Behinderungen in Österreich Unterstützungsleistungen erhalten, wird weitgehend anhand von medizinischen Kriterien entschieden. Diese Kriterien sind jedoch vollkommen veraltet, und spiegeln nicht mehr das aktuelle Verständnis von Behinderung wider. Daher braucht es unbedingt eine Überarbeitung der Vorgaben.
Menschen mit Behinderungen können in Österreich eine Reihe an Unterstützungen erhalten – so gibt es Pflegegeld, spezielle Pensionen oder Persönliche Assistenz in der Freizeit sowie am Arbeitsplatz, um die den Alltag zu bewältigen. Dadurch sollen gleichwertige Ausgangsvoraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben für alle geschaffen werden. Diese Leistungen durch Bund, Länder und Gemeinden erhält man jedoch nicht einfach so – zuerst muss man nachweisen, dass man sie auch tatsächlich benötigt. Anhand dafür konzipierten Kriterien soll überprüft werden, inwiefern also eine Behinderung vorliegt.
In diesem Zusammenhang betonen die Behindertenanwaltschaft und der Verein Lichterkette, dass dieses System bzw. diese Kriterien einem veralteten Bild von Behinderung zu Grunde liegen. Sie fordern daher eine gründliche Überarbeitung der Vorgaben, nach denen über den Anspruch auf Unterstützungsleistungen für Menschen mit Behinderungen entschieden wird.
Kriterien längst überholt
Die Voraussetzungen variieren je nach Unterstützungsleistung. Allen gemein ist jedoch, dass der Fokus stark auf medizinischen Aspekten liegt. Ein bestimmte Pflegestufe etwa ist manchmal Voraussetzung, um gewisse Leistungen in Anspruch nehmen zu können, obwohl nicht unbedingt ein Zusammenhang zur Pflegestufe besteht. Werden diese medizinischen Kriterien nicht erfüllt, kommt die benötigte Unterstützung oft zu kurz.
„Das ist ein großes Problem“, erklärt Christine Steger, Behindertenanwältin des Bundes. „Die eigentliche Behinderung hängt nämlich stark von gesellschaftlichen Faktoren ab. Anders gesagt: Menschen sind nicht behindert, sie werden behindert.“ Steger verweist hier auf das sogenannte soziale Modell von Behinderung – dieses meint schlussendlich, dass Menschen nicht rein aufgrund einer körperlichen Eigenschaft beeinträchtigt werden, sondern, dass zudem noch gesellschaftliche Faktoren Einfluss nehmen.
In diesem Sinn werden gehörlose Menschen erst dann an der Teilhabe an der Gesellschaft behindert, wenn ihnen keine Gebärdensprachdolmetschung zur Verfügung steht. Steger erläutert weiter, dass dieses Modell allgemein anerkannt wäre: „Nicht zuletzt liegt es der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen zugrunde, die in Österreich seit 2008 in Kraft ist. Wir sind als Gesellschaft dafür verantwortlich, für Menschen mit Behinderungen jene Bedingungen zu schaffen, die ihnen eine gleichberechtigte Teilhabe in allen Lebensbereichen ermöglichen – und die öffentliche Hand ist dazu verpflichtet.“
Forschung deckt wichtige Aspekte auf
Dennoch wird hinsichtlich der Beurteilung des Ausmaßes von Behinderung im Zusammenhang mit Sozialleistungen meist immer noch das medizinische Modell verwendet. Brigitte Heller, Vorsitzende der Betroffenenvertretung für Menschen mit psychischer Erkrankung, dem Verein Lichterkette erklärt außerdem, dass manche Formen von Behinderung in den Beurteilungskriterien gar nicht erfasst sind. Sie führt aus: „Für Menschen mit psychischer Erkrankung bzw. psychosozialer Behinderung ist es immer wieder schwierig, im Rahmen unterschiedlichster Einstufungsverfahren zum begünstigten Personenkreis zu gehören“. Auch sie verweist in diesem Zusammenhang auf zuvor erwähntes Modell, welches diese fehlenden Faktoren berücksichtigt.
Das sogenannte biopsychosoziale Modell vereinigt in Bezug auf Krankheit körperliche, psychische und soziale Faktoren – so wird ein umfassenderes Bild davon, was Behinderung beispielsweise im Alltag bedeutet. Dadurch werden auch Barrieren und Beeinträchtigungen erkannt, die bei einem Fokus auf medizinische Aspekte nicht verdeckt bleiben. Aus diesem Grund braucht es dieses Modell unbedingt in allen Verfahren zur Einstufung von Behinderung.
Die pro mente Austria arbeitet in Zusammenarbeit mit Teammitgliedern des Vereins Lichterkette zurzeit eine Checkliste für Gutachter:innen aus, die diesen Aspekten gerecht wird.
Evaluierung auch bei Staatenprüfung gefordert
Anlässlich der Staatenprüfung Österreich letztes Jahr rief auch der UN-Fachausschuss zu einer Anpassung bzw. Weiterentwicklung der Gesetze auf. Der Nationale Aktionsplan Behinderung sieht hierzu vor, dass die Einschätzungsverordnung, welche die Festsetzung des Grades der Behinderung regelt, umfassend evaluiert und weiterentwickelt wird.
Es muss gemeinsam, unter Einbindung aller Betroffenen ein zeitgemäßes System erarbeitet werden, welches Behinderung nach dem biopsychosozialem Modell versteht, um eine Inklusion im Sinne der Behindertenrechtskonvention in Österreich gewährleisten zu können.
Quelle:
Behindertenanwaltschaft via OTS | 16.01.2024
Sozialleistungen bei Behinderung: Einstufung muss zeitgemäß werden
https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20240116_OTS0014/
AutorIn: Redaktion
Zuletzt aktualisiert am: 30.01.2024
Artikel-Kategorie(n): Gleichstellung und Antidiskriminierung, News
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