In Tagesstrukturen in Wien sind 50 Fehltage erlaubt. Für längere Ausfälle gibt es laut Fonds Soziales Wien (FSW) spezielle Regelungen – die anscheinend wenig praxistauglich sind. Behindertenarbeit.at ist dem nachgegangen und hat mit der Initiative ENTHINDERT gesprochen.
In einer Tagesstruktur zu sein, bedeutet in der Regel eine 5-Tage-Woche zu haben. Bis zu 50 Tage pro Jahr dürfen Klient:innen fehlen – ob wegen Urlaub oder Krankheit ist unerheblich, hier wird grundsätzlich keine Unterscheidung gemacht. Sobald man diese Anzahl überschreitet, fällt die Förderung des FSW für den Träger der Einrichtung weg, und die abwesende Person wird von der Tagesstruktur abgemeldet. Eine Situation, die bei längeren Krankheiten oder Operationen durchaus eintreten kann.
„Es kann und darf nicht sein, dass Menschen mit Behinderungen bestraft werden, wenn sie krank werden. Nämlich insofern, dass sie dann ihren Tagesstrukturplatz verlieren oder dass ihnen dann Rechnungen ins Haus flattern“, so die Selbsthilfegruppe und Initiative ENTHINDERT in ihrem Schreiben an den Wiener Stadtrat, und weiter: „Die Tagesstrukturen tun, was sie wollen“. Die genannten Rechnungen beziehen sich auf sogenannten Platzhaltegebühren, die von den Tagesstrukturen eingehoben werden, wenn man den Platz nicht verlieren will.
Laut FSW-Richtlinie keine Platzhaltegebühren nötig
„Mein Sohn hatte einen epileptischen Anfall und war mehrere Wochen zuhause. Alle in der Tagesstruktur waren froh darüber, dass er zuhause blieb. Und nun kommt eine saftige Rechnung, ohne jede Vorwarnung“, erzählt eine betroffene Mutter.
Laut Richtlinie des FSW sind Platzhaltegebühren bei längeren Krankenständen nicht vorgesehen (nur bei urlaubsbedingter Abwesenheit). Es hat zwar ab sechs Wochen durchgängiger Abwesenheit eine Abmeldung zu erfolgen, aber – so die Richtlinie im Wortlaut: „Der erkrankten Kundin oder dem erkrankten Kunden soll im Falle einer Kündigung eine Rückkehrmöglichkeit (…) schriftlich zugesagt werden.“ Und weiter: Sollte nach Rückkehr kein Kontingentplatz frei sein, weil dieser vergeben wurde, kann um eine personenbezogene Einzelfallbewilligung angesucht werden. Eine Sonderregelung ist laut Richtlinie auch möglich, wenn Kund:innen regelmäßig über einen längeren Zeitraum abwesend sind. So steht es jedenfalls auf dem Papier.
„Entweder man zahlt oder man verliert den Platz“
Die Praxis sieht anders aus. „Die Vereine machen das so: Man bekommt beim Eintritt einen Vertrag, da steht drinnen, dass man vom Platz abgemeldet wird, wenn man die Fehltage überschreitet. Dass man wieder zurückkommen kann, das ist nicht so einfach“, schildert Claudia Sengeis von ENTHINDERT ihre Erfahrungen.
Betroffene Familien werden lediglich vor die Wahl gestellt, die verlangten Gebühren zu bezahlen oder den Platz zu verlieren. Eine Wahl, die letztlich keine ist, denn der Platz in der Tagesstruktur ist für viele Klient:innen von großer Bedeutung. „Mein Sohn ist Autist. Die Tagesstruktur ist so wichtig für ihn, das ist seine Arbeit, das ist der einzige Ort, wo er sozialen Kontakt hat.“
„Es wird alles kreuz und quer verrechnet“
Eine interessante Tatsache, die durch den Austausch Betroffener deutlich wurde: Die verlangten Platzhaltegebühren fallen je nach Tagesstruktur unterschiedlich aus. Dies ist verwunderlich, da in der FSW-Richtlinie klar festgelegt ist, dass Platzhaltegebühren „maximal im Ausmaß des gültigen Tarifes“ verrechnet werden dürfen. Dieser liegt aktuell bei etwa EUR 30,- pro Tag. Laut Rückmeldungen an ENTHINDERT wird manchmal jedoch zwischen EUR 70,- und EUR 100,- pro Fehltag verlangt, mit dem Argument, es seien schließlich auch Personal- und Energiekosten zu bezahlen.
Auch die Rückerstattung von Essensbeiträgen scheint willkürlich. „Manche zahlen am Ende des Monats Beiträge zurück, die aufgrund von Fehltagen nicht verbraucht wurden, anderen sagen, das ist zu kompliziert.“, so Claudia Sengeis im Gespräch.
Bitte um Unterstützung von Wiener Stadtrat
Eine Frage, die sich aufdrängt: Was sagt der Fonds Soziales Wien dazu? „Der FSW sagt, man soll melden, wenn etwas nicht passt. Aber wenn man es meldet, passiert garnichts“, so Frau Sengeis von ENTHINDERT. Man fühle sich alleingelassen. Und dass, obwohl es nicht wenige betrifft: „Das ist schon ein relativ häufiges Problem“, so Sengeis.
Der Brief an Stadtrat Peter Hacker wurde am 17. Jänner 2024 von der Initiative ENTHINDERT versendet und kann online nachgelesen werden. Die Antwort von der Wiener Stadtregierung lässt aktuell noch auf sich warten.
Quellen und weitere Infos:
Offizielle Webpräsenz der Selbsthilfegruppe und Initiative ENTHINDERT
https://enthindert.blogspot.com
Richtlinie des Fonds Soziales Wien für die Leistung Tagesstruktur
https://www.fsw.at/downloads/foerderwesen_anerkennung/foerderrichtlinien/ergaenzende/spezifisch-ergaenzend/erg-spez-rl-tagesstruktur.1651571916.pdf
Regeln für die Tagesstruktur (einfach erklärt)
https://www.fsw.at/downloads/broschueren/behinderung/regeln-tagesstruktur.pdf
AutorIn: Alice Bauer
Zuletzt aktualisiert am: 11.02.2024
Artikel-Kategorie(n): Menschen mit Lernschwierigkeiten, News
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