In einer Pressekonferenz am 28.02.2024 präsentierte die Lebenshilfe Tirol ein richtungsweisendes Urteil des Obersten Gerichtshofs (OGH) zum Thema Aufsichtspflicht. Behindertenarbeit.at war online mit dabei.
Im konkreten Fall wurde ein erwachsener Mann mit Trisomie 21 in einer Einrichtungen der Lebenshilfe Tirol betreut. Dem Wunsch des Klienten zufolge hatte er ein Mobilitätstraining absolviert, um alleine einkaufen zu können. Dies funktionierte einige Monate problemlos. Am 15.10.2018 entschied ein Mitarbeiter der Lebenshilfe wie schon oftmals vorher auch, dass der Klient alleine einkaufen gehen könne, nachdem er seinen Blutzucker gemessen und etwas gegessen hatte. Dabei wurde der Mann mit Behinderung von einem Auto erfasst, als er abseits des Zebrastreifens die Straße überquerte.
Die Person, die das Auto fuhr, konnte den Mann nicht rechtzeitig sehen und konnte einen Zusammenstoß nicht verhindern. Der Mann wurde verletzt. Die Insassin des Autos, die Klägerin, forderte Schadensersatz von der Betreuungseinrichtung, weil sie glaubte, dass diese ihre Aufsichtspflicht verletzt hatte.
Jahrelanges Verfahren ging über drei Instanzen
Das Bezirksgericht entschied, dass die Betreuungseinrichtung nicht haftbar gemacht werden kann, da ihre Mitarbeiter die mangelnde Verkehrstauglichkeit des Betreuten nicht erkennen konnten.
Das Berufungsgericht änderte jedoch das Urteil und befand, dass die Betreuungseinrichtung ihre Aufsichtspflicht verletzt habe, da ein verantwortungsvoller Aufsichtsperson die Gefahr anders eingeschätzt hätte.
Der Oberste Gerichtshof hob das Urteil auf und entschied schließlich im September 2023, dass Betreuungseinrichtungen normalerweise bei erwachsenen Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen keine Aufsichtspflicht. Sie können nur für Verletzungen allgemeiner Sicherheitsregeln haftbar gemacht werden. In diesem Fall gab es keine Hinweise darauf, dass die Betreuungseinrichtung die Sicherheitsregeln verletzt hatte, indem sie den Betreuten alleine einkaufen ließ. Sie handelte vielmehr im Einklang mit den Grundsätzen der UN-Behindertenkonvention, um dem behinderten Menschen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.
Der entscheidende Satz im OGH-Urteil vom September 2023:
„Eine Haftung einer Betreuungseinrichtung eines Volljährigen gegenüber außenstehenden Dritten kommt regelmäßig nicht auf der Grundlage der Verletzung einer Aufsichtspflicht nach § 1309 ABGB, sondern nur bei Verletzung allgemeiner Verkehrssicherungspflichten in Betracht.“
Lebenshilfe erfreut: Meilenstein der Inklusion
Philippe Narval, Generalsekretär der Lebenshilfe Österreich, zeigte sich erfreut über das Urteil und bezeichnete dieses als „Meilenstein der Inklusion“. Gleichzeitig merkte er an, dass es bedauerlich sei, dass ein Höchstgericht über so eine Sache entscheiden müsse und es nicht selbstverständlich sei, dass Menschen mit Behinderung keine Menschen zweiter Klasse sind.
Gregor Riedmann, Lebenshilfe Tirol Verwaltung, führte zwei wichtige Erkenntnisse aus dem Urteil aus:
- Eine Betreuungseinrichtung hat bei erwachsenen Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen keine Aufsichtspflicht wie bei Kindern. Die Betreuung hat aber Sicherungspflichten und Sorgfaltspflichten, in diesem Fall war das die Absolvierung eines ein Mobilitätstrainings. Wichtig dabei ist auch die Dokumentation solcher Maßnahmen.
- Bei der Abwägung zwischen Selbstbestimmung und Sicherheit ist die UN-BRK wichtig. Und dabei wird vom OGH das Selbstbestimmungsrecht hoch eingestuft: Freiheit hat Vorrang vor absoluter Sicherheit.
Recht auf Selbstbestimmung höher zu werten als Aufsichtspflicht
Georg Willeit, Geschäftsführer der Lebenshilfe Tirol und Vizepräsident des Dachverbands Lebenshilfe Österreich, spricht von einem richtungsweisenden Urteil. „Die UN-Behindertenrechtskonvention ist in einem höchstgerichtlichen Urteilsspruch angekommen“, so Willeit. Das Recht auf Selbstbestimmung sei demnach höher zu werten als das Thema Aufsichtspflicht.
Dies bedeute für den gesamten Bereich der Behindertenhilfe eine „riesige Erleichterung“, weil Betreuer:innen oft im Dilemma zw. Aufsichtspflicht und persönlicher Freiheit und Selbstbestimmung der Kund:innen stehen würden. Menschen mit Lernschwierigkeiten können ihre persönlichen Rechte und Freiheiten ausüben, solange die allgemeine Sorgfalt seitens der Einrichtung gewahrt wird. Eine ständige Aufsichtspflicht sei nach dem vorliegenden OGH-Urteil nicht gegeben.
Es wird sich zeigen, was diese Entscheidung, die nun auf dem Papier steht, in Zukunft für die Betreuung und Begleitung bedeutet. Die Lebenshilfe ist jedenfalls optimistisch und sieht mehr Möglichkeit für die aktive Ausübung von Selbstbestimmung für Menschen mit Lernschwierigkeiten.
Quelle
www.ogh.gv.at Beitrag vom 20.09.2023
Urteile und Beschlüsse des OGH
Betreuungsinstitution trifft keine Aufsichtspflicht nach § 1309 ABGB über eine behinderte volljährige Person
https://www.ogh.gv.at/entscheidungen/entscheidungen-ogh/betreuungsinstitution-trifft-keine-aufsichtspflicht-nach-%C2%A7-1309-abgb-ueber-eine-behinderte-volljaehrige-person/
AutorIn: Thomas Stix
Zuletzt aktualisiert am: 28.02.2024
Artikel-Kategorie(n): Gesetze, News, Selbstbestimmtes Leben
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