3. Dezember – UN-Welttag der Menschen mit Behinderung – aus der Sicht des Betreuungsberufes. Ein Kommentar von Walter Waiss.
Guten Tag! Mein Name ist Walter Waiss.
Wer bin ich und warum gestehe ich mir das Recht zu, Ihnen meine Fragen zu stellen, meine Wahrnehmungen und Ängste öffentlich mitzuteilen?
Vielleicht kennen Sie mich.
Im März – am absoluten Beginn der Covid-19-Krise in Österreich – berichtete der ORF über die Situation in einem Wohnhaus für Menschen mit Behinderung, in dem es zu Infektionen gekommen war. Ich war – durchgehend mehr als 14 Tage – einer der BetreuerInnen in diesem Wohnhaus.
Ich bin in einem Wohnhaus eingesprungen, welches nicht mein Stammarbeitsplatz ist (!), um den BewohnerInnen dieser WG eine Stütze zu sein, sie durch diese extrem belastende Zeit zu begleiten und um ihre Gesundung sowohl körperlich, als auch seelisch nach bestem Wissen und Gewissen zu unterstützen.
Mein Ringen in den ersten Tagen, war das Ringen um „Kennenlernen“, permanenter Versuch „Vertrauen zu bekommen und ein Vertrauter, ein verlässlicher Partner zu werden“. Beschränkt auf einen kleinen Teil der WG, einige BewohnerInnen nur mehr auf ihr eigenes Zimmer, zum Teil ohne verstehen zu können, warum dies so ist. In dieser Situation übernehmen alle notwendigen Tätigkeiten beinahe unbekannte Personen, eingehüllt in Schutzausrüstung, die allein die Augenpartie erkennen lässt. Fremde, Monster, Außerirdische – gut oder böse?
Nein, unsere Personalschlüssel sind weder in „normaler Zeit“ ausreichend und in besonderen Zeiten fehlt daher jegliche Möglichkeit geordnet in die Situation eines Notbetriebes überzuleiten, rechtzeitig und ausreichend erklären zu können und Ängsten vorauseilend begegnen zu können.
Und: Nein, das war nicht der Beginn meines Engagements.
Bereits zu Beginn der 1990er-Jahre war ich Teil jener Widerstandsgruppe, die durch politische Arbeit – z.B. mit einer Rede vor dem NÖ-Landtag – , durch Kooperationen mit dem ORF und dem Profil, aber auch durch zivilen Ungehorsam die Auflösung des Kinderhauses in Maria Gugging herbeiführte.
Jeder meiner Lebensabschnitte seither war geprägt vom Engagement für Menschen am Rand der Gesellschaft.
Daher erlaube ich mir – nein, sehe es als meine moralische Pflicht – Ihnen meine Fragen zu stellen, meine Wahrnehmungen und Ängste darzulegen.
2020 ist das Jahr des Corona-Virus, das Jahr der Einschränkungen und Lockdowns.
In der Wirtschaft hat sich gezeigt, dass die Kleinen verloren haben gegen die Großen.
Wer aber sind die Verlierer aus der Perspektive von Gesellschaft, Gesundheit und Sicherheit in ihrem Leben?
Lockdown – bereits dieses Wort verniedlicht und verleugnet, was es aussagt: Schlägt man in Wörterbüchern nach, findet man dazu sehr klare Übersetzungen: Abriegelung, Einschließung, Gefängnis!
Wir werden eingesperrt um uns vor uns selbst zu schützen. Das allerdings klingt jetzt bereits nach Psychiatrie. Das klingt danach, dass wir weder krankheits-, noch gefährdungseinsichtig sind. Aber: Wir lassen es zu. Wir schränken uns ein, wir beschränken uns.
Verstehen Sie mich nicht falsch! Ich zweifle weder an der Gefährlichkeit des Virus, noch daran, dass zum aktuellen Zeitpunkt ausschließlich klare Maßnahmen der Kontaktverringerung helfen können um die Gesundheit möglichst vieler Menschen zu gewährleisten und Menschen, die ernsthaft erkranken die bestmöglich Behandlung erhalten.
Was hat das Alles aber mit den Rechten von Menschen mit Behinderung, mit dem 3. Dezember 2020 zu tun?
2020 wurden auch Menschen mit Behinderung in ihrer Bewegungsfreiheit massiv eingeschränkt und wurden ihre Kontakte zur Welt ausserhalb ihres betreuten Lebensraums abgeschnitten; Menschen, die zum Teil nicht verstehen können, warum dies so ist! Aber anstatt mit aller Kraft Betreuungsschlüssel stark zu erhöhen um diese Situation begleiten, abfedern oder sogar ausgleichen zu können, wurden von Seiten der Politik keinerlei zusätzliche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt um mehr (qualifiziertes) Personal anzustellen. Ganz im Gegenteil, es wurde die Möglichkeit geschaffen sowohl den bisher vorgegebenen Personalschlüssel zu unterschreiten, als auch den Qualitätsmix durch Ausbildungen nicht mehr einhalten zu müssen.Die politische Entscheidung fiel gegen zusätzliche MitarbeiterInnen in der Krise und zu Gunsten von unberechenbaren Mehrstunden, persönlichen MitarbeiterInnenbelastungen und damit finanzieller Unplanbarkeit.
Ein einfacher Schritt war es, unglaublich einfach und ganze Menschengruppen wurden zu besonderen Risikogruppen ernannt. Wir haben es akzeptiert.
Eine Reihe an Gesetzen und Verordnungen, wie auch an Kontrollen und Strafen waren und sind Gegenstand von Verhandlungen um ihre Rechtmäßigkeit und Zulässigkeit bezogen auf die österreichische Verfassung zu klären.
Wer aber klärt zu Zulässigkeit der massiven Eingriffe speziell für Menschen mit Behinderung gemessen an der UN-Konvention und damit an einem weiteren Bundesgesetz?
Wer trägt die Verantowrtung dafür, dass auch in einer Krisenzeit die besonderen Schutzrechte für Menschen mit Behinderung beachtet und eingehalten werden?
Wer ist dafür verantwortlich, dass aus dem Jahr 2020 gelernt wird und für die Zukunft Anweisungen, Pläne, Durchführungsverordnungen für den Krisenfall erarbeitet werden?
Denn auch diese Krise ist kein Grund, dass nicht an der Verbesserung des Lebensstandards (UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung, § 28) (weiter)gearbeitet wird.
Kontaktverbote, später massive Kontakteinschränkungen – für Menschen, die nicht mit Telefon oder Internet umgehen können oder entsprechende Geräte nicht persönlich zur Verfügung haben.
Gewaltsamer Abbruch von Beziehungen, die ausschließlich auf persönlicher Ebene gehalten und verstanden werden können.
Verbot beinahe jeder Möglichkeit Freizeit zu gestalten.
Tatsächlich eingesperrt zu sein – oder dies vermittelt zu bekommen.
Und nun werden exakt diese fremdbestimmten Risikogruppen das Recht erhalten, die ersten Dosen an Medikamenten verabreicht zu bekommen. Oftmals Menschen, die nicht (mehr) selbst über ihre medizinische Behandlung entscheiden können oder dürfen. Welche Informationen und Erklärungen brauchen Menschen mit Behinderung und eventuell ihre RechtsvertreterInnen um ihr persönliches Impfrisiko einschätzen zu können und ihre ganz persönliche Entscheidung treffen zu können?
In welcher Form brauchen sie diese Information (Leichter Lesen, Unterstütze Kommunikation, u.ä.) und wer sind die Vertrauenspersonen, die diese Information geben können? Benötigt es genau dafür nicht wieder ausreichend und qualifiziertes Personal?
Warum ich Ihnen diese Frage stellen muss:
Klare Antworten auf meine Frage gebe nicht ich selbst, sondern zitiere sie aus amtlichen Vorschriften an RechtsträgerInnen von Pflege- und Betreuungseinrichtungen auch für Menschen mit Behinderung:
Aus einem Anschreiben vom 12. März 2020:
Hinsichtlich Betreuungspersonal wird ausgeführt, dass die Vorgaben betreffend Mindestpersonalbedarfe und Qualifikationen vorübergehend außer Kraft gesetzt sind. Es ist je nach Situation ausreichend Betreuungspersonal zu gewährleisten. (Zitat Ende)
Oder aus einem Anschreiben vom 16. November 2020, das in der Wortwahl noch deutlicher wird:
Es darf ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass die Mindestpersonalvorgaben und Qualifikationsschlüssel bei Personalengpässen oder in Notsituationen (zB Quarantänebereich) weiterhin unterschritten werden können. (Zitat Ende)
Von „ausreichend Betreuungspersonal – je nach Situation – wird Nichts mehr erwähnt.
Auf jeden Fall bleibt auch im ersten Anschreiben ungeklärt, was „ausreichend gemessen an einer Situation“ bedeutet und wer darüber entscheidet, wer entsprechende Entscheidungen kontrolliert und bewertet. Ebenso fehlt jeglicher zeitliche Faktor einer solchen Situation, der Notwendigkeit einer Überprüfung und eröffnet die Frage danach, wer und wer wofür die Verantwortung übernimmt.
Ohne den finanziellen Aspekt oder fianzielle Auswirkungen zu beachten, sondern allein auf das Wohlbefinden und Wohlergehen von KlientInnen konzentriert gibt es eine einzige Antwort: Es sind ausschließlich die MitarbeiterInnen in Pflege, Betreuung und Begleitung die Garanten menschenwürdiger und qualitätsvoller Arbeit mit und für Menschen, die Unterstützung benötigen! Verantwortung und Qualitätsgarantie wurde über einen mittlerweile untragbar langen Zeitraum MitarbeiterInnen überantwortet, die zeitlich, wie auch emotional seit Monaten im Ausnahmezustand arbeiten müssen. „Monate des Ausnahmezustandes“ bezieht sich allein auf die Covid-19-Pandemie, denn die Situation der Überforderung besteht seit Jahren, wird seit Jahren diskutiert und mit ebenso großer Sicherheit wurde sie nie abgemildert oder gar beendet.
Begleitung, Betreuung und Pflege hat nur noch rhetorischen Stellenwert. Menschen, die Unterstützung brauchen und diese bisher auch bestmöglich – wenn auch auf Grund der allgemeinen personellen Bedingungen „schlecht“ – erhalten haben, wird diese Unterstützung im Namen der Krise genommen. Es werden Vorschriften erlassen, die vor einem Jahr undenkbar waren und der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung vollkommen widersprechen. Wird diese völkerrechtliche Vereinbarung und Vorschrift, die auch in Österreich seit 2008 ein Bundesgesetz ist, von den politisch Verantwortlichen vollinhaltlich gebrochen?
Die selben Verantwortlichen vergeben das Recht der Gabe der ersten Medikamentedosen an exakt diese wehrlose Gruppe; Medikamente aus weltweiten Eilzulassungen.
Warum ich misstraue? Diese Frage stellt sich für mich nicht mehr!
Menschen mit Bedarf an Begleitung, Betreuung und Pflege haben insgesamt viel weniger Kontakte zu Menschen, als wir Menschen ohne diesen Bedarf es gewohnt sind. Was wird es für jedeN EinzelneN von uns bedeuten, wenn wir selbst in eine Lebenssituation kommen, in der wir Unterstützung brauchen?
Aber im selben Maß, wie wir unsere Kontakte freiwillig und/oder auf Grund von Vorschriften eingeschränkt haben, wurden Menschen mit Behinderung die wenigen Kontakte genommen, die sie hatten; sei es der Besuch einer in sich abgeschlossenen Turnrunde, seien es Besuchsdienst oder die Friseurin, die in die WG oder das Wohnhaus gekommen ist.
Beinahe alles an Gewohntem wurde Menschen mit Behinderung genommen, MitarbeiterInnen kämpfen mit all ihrer Ausbildung, ihrer Erfahrung und ihrem Engagement gegen die Auswirkungen dieser Isolation und Desorientierung an – und können doch nur das Schlimmste verhindern. Selbst ihre Betreuungsschlüssel können sie nicht mehr aufrechterhalten.
Lang genug wurde gepredigt, wer denn zu Risikogruppen gehört.
Zuerst werden exakt diese „Risikogruppen“, die seit Monaten im Stich gelassen werden von Seiten der Politik, gegen das Corona-Virus geimpft und dafür von Vielen beneidet.
Neid allerdings wirkt jedem Gedanken der Gemeinsamkeit – der Inklusion – entgegen!
Danach, als zweite Gruppe werden wir es sein, KrankenpflegerInnen, SozialbertreuerInnen, ÄrztInnen und anderes für den sozialen Frieden notwendige Personal.
Es stehen unterschiedliche Medikamente zur Verfügung, die auf unterschiedlich Art ihre Wirkung im Körper erreichen sollen.
Jeder Mensch und/oder jedeR RechtsvertreterIn sollte die Fragen beantworten können:
Möchte ich (mich) für eine Impfung entscheiden?
Für welches Medikament möchte ich mich entscheiden?
Wer wird für die Beantwortung dieser Frage sorgen?
Menschen aus den Risikogruppen bergen ja bereits gesundheitliche Risiken und Erkrankungen in sich. Sind sie nicht besonders gefährdet – auch einem in Schnellverfahren zugelassenen Impfstoff gegenüber?
Und Menschen aus „systemrelevanten Bereichen“ werden das Recht erhalten als nächste Gruppen gegen Covid-19 geimpft zu werden – mit allen möglichen Folgen und Konsequenzen.
Die Vorschriften für Pflege- und Betreuungspersonal zum Schutz von KlientInnen, zum Schutz vor zu großen Ausfällen von medizinischen oder pädagogischen MitarbeiterInnen und zum Schutz der in der Pflege und Betreuung arbeitenden Menschen war klar. Immer wieder wurde dieser wichtige und vorrangige Schutz über die Medien der Bevölkerung dargelegt.
Was aber ist die teilweise Wirklichkeit, die verunsichernde Wahrheit?
Als Antwort auch auf diese Frage zitiere ich aus einer kurzen – für mich aber erschütternden – Dienstanweisung, die exakt zeigt, wie die Wirklichkeit in Pflege und Betreuung aussieht:
Derzeit dürfen wir die Masken GB2626-2006 – das sind die, wo der Metallbügel bei der Nase sichtbar ist – nur als MNS, nicht aber als FFP2 Masken verwenden!!!
Leider haben auch wir Masken mit der Produktionslosnummer SC20200045 erhalten, die gemäß einer nachträglichen Prüfung des ÖTI nicht einer FFP2 Maske entsprechen.Diese Masken mit silberfarbigem Nasenbügel in der blau weißen Plastikverpackung mit dem Aufdruck KN95 GB2626-2006 bitte vorerst wie vom Bundesministerium empfohlen nur als Mund- Nasenschutz betrachten!!! (Zitat Ende)
Es kann sein, dass – bei Einhaltung aller Vorschriften – tatsächlich der Schutz besteht, der versprochen wird. Es kann aber auch ganz anders sein und das Verlassen auf den vorgeschriebenen Schutz wiegt uns nur in (falscher) Sicherheit.
Es zeigt, dass ausschließlich die extreme Selbstdisziplin der MitarbeiterInnen in Pflege und Betreuung – sowohl im beruflichen, als auch im privaten Alltag – die tagtäglich Leistungen erbracht haben, eine noch größere Zahl an Infektionen mit all ihren Folgen verhindert hat.
Wer aber hat die sogenannten Risikogruppen oder die MitabreiterInnen in Pflege und Betreuung gefragt?
Wer klärt Menschen mit (mentalen) Behinderung ausreichend über Gefahren und Risiken auf?
Warten wir – MitarbeiterInnen aus den systemrelevanten Bereichen – darauf zu den Ersten zu gehören?
Die Devise der SelbstvertreterInnen von Menschen mit Behinderung lautet:
„Nichts über uns ohne uns“
Die Devise verhallt in Zeiten der Krise
Sagen Sie mir, wie das passieren konnte?
Sagen Sie mir, warum so entschieden und gehandelt wurde?
Das gab es schon öfter in der Geschichte. Betroffen waren immer sogenannte „Minderheiten“. Es waren unterschiedliche Ziele, aus Sicht von Wissenschaft, Wirtschaft, (hinterfragenswerter) Moral und Politik, die Menschen die Rechte der Selbstvertretung nahmen.
Die „UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung“ sollte solche Vorgehensweisen verhindern; dazu wurde sie von den Völkern und Regierungen dieser Welt vereinbart.
Warum ich meine Fragen stelle? Weil ich misstraue! Warum ich misstraue?
Weil diese internationale Vereinbarung mit Füßen getreten und gebrochen wird; weil ich empfinde, dass Menschen mit Behinderung 2020 beinahe aller ihrer Rechte beraubt wurden und werden!
Walter Waiss
Fachbetreuer in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung
Betriebsratsvorsitzender eines Vereins, der Menschen mit Behinderung umfassend betreut
AutorIn: Walter Waiss
Zuletzt aktualisiert am: 08.12.2020
Artikel-Kategorie(n): Arbeitsbedingungen, Kommentare, News
Permalink: [Kurzlink]